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Die Peinlichkeiten und Goethe sind geblieben

■ Die erneuerte Jugendweihe in den 90er Jahren/ Etwas Bewahrenswertes wurde ins neue Zeitalter hinübergerettet

Berlin. Zapplig standen wir zwischen den Schulbänken und probten das Gelöbnis zur Jugendweihe zum x-ten Male. Es war tödlich langweilig. Jeder wollte lieber an irgendeinem anderem Ort der Welt sein. Auf die Frage »Seid ihr bereit ... für die große und edle Sache des Sozialismus zu kämpfen« und so weiter und so fort, sollten wir schwören: Ja, das geloben wir. Aber es hörte sich auch beim achten Versuch wieder an, als hätten wir gesagt: Ja das glooben wir. Die Lehrerin zeterte, wir feixten.

Aufgereiht standen wir dann in kneifenden Anzügen und hängenden Rüschenkleidern auf der Bühne, bemüht, nicht von den ersten Stöckelschuhen unseres neuen Lebens zu fallen. Vor uns unsere Eltern und Tanten und Onkels. Sie hatten anstrengende Tage hinter sich. Das Essen, das Familienfest, die Garderobe — das Ritual mußte stimmen. Sie wußten, dieser Tag ist ein wichtiger Tag. Uns war er furchtbar peinlich. Jeder wollte so schnell wie möglich die blumenbringenden Jungpioniere, die schmatzenden Omas und den Lebensweisheiten und Parteitagszitate dozierenden Festredner hinter sich bringen. Zum Schluß kam immer noch ein Goethe wie Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören... Das war 1980.

Die Peinlichkeiten und Goethe sind geblieben. Goethe ist deutsches Erbe und paßt immer in feierliche Minuten, auch nach der Wende. Das Gelöbnis war eine Altlast, die mußte weg. Der Sozialismus ist tot, aber die Jugendweihe lebt. Jeder zweite Jugendliche in den neuen Ländern will so in »den Kreis der Erwachsenen aufgenommen« werden. In Berlin sind es 7.000. Tradiertes Denken oder Mangel an Ersatz für zünftige Familienfeste?

Um »als Erwachsener anerkannt« zu sein, meint Sebastian. Früher hätte es dafür auch den Ausweis gegeben, jetzt kriegen sie ihn erst mit 16. Die Philosophie der Urkunden. Erst mit dem Stempel ist man ein richtiger Mensch. Jörn denkt materialistischer, »wegen der Geschenke natürlich«. Er fand zwar die Feier seiner Schwester »total steif, die sind nach vorn gegangen, haben Blumen in die Hand gedrückt bekommen und sind wieder abgezischt«. Und das drumherum »mußte eben sein«. Aber selbst möchte er nun nicht darauf verzichten, einzukassieren, was den Lieben der Anlaß wert ist. Das wird nicht wenig, denn, »da kommen die Verwandten alle mal zusammen«, freut sich Sebastian. Blumen wollten sie eigentlich nicht mehr haben, lieber ein Buch. Doch dafür reichte das Geld nicht, das die Interessenvereinigung Jugendweihe e.V., für den Akt zuschießt. Wer einen Schritt ins neue Leben wagt, soll sich auch ordentlich darauf vorbereiten. Die Interessenvereinigung, die die Zeremonie organisiert, macht jetzt dazu »Angebote« im Vorfeld der Feierlichkeit. Nichts ist mehr obligatorisch. Wie die früheren Jugendstunden, in denen sich mancher Lehrer viel Mühe gab, die etwas hölzernen Themen wie Wir erfüllen das revolutionäre Vermächtnis oder Freundschaft zum Lande Lenins — Herzenssache unseres Volkes zu umgehen.

Ein solches Angebot war vor wenigen Tagen der Jugendweihetreff im Zeiss-Großplanetarium. Ohne Thema oder Motto für 600 Jugendliche. Es sei denn man nimmt das des DJ: »Ich tanz mich tot bei Depesche Mode.« Nur die Mädchen tanzen dicht gedrängt auf der riesen Fläche. Die Jungen sitzen auf langen Bänken und schauen nach den Mädchen. Sie lockt man mit Preisausschreiben. Der Gewinn verspricht eine kostenlose Fahrschule. Die Mädchen lassen sich ihr Festtag-Make-up von Rainbow-Frauen der Berlin-Cosmetics auf die blassen Gesichter malen. Dann gibt es noch einen Film über die Sterne und draußen unterm trüben Himmel duftet die Bratwurst. Geredet wird an diesem Nachmittag nicht.

Dafür empfiehlt die Interessenvereinigung »Persönlichkeiten aus dem Territorium«, wie den Dorfchronisten, den Drogenberater oder Naturschutzgruppen. Schließlich sollen es keine Sauf-, Freß- und Schenkfeste werden, erklärt Geschäftsführer Siegfried Jahn, sondern man wolle den Jugendlichen »Helfer und Wegbeleiter bei der Suche nach dem Sinn des Lebens sein«.

Früher schien der nach zehn Jugendstunden gefunden. Am Weihetag erhielten alle ein schweres Buch Vom Sinn des Lebens. Bei manchem blieb der Prachtband das einzige Buch im Regal. Die Ansprüche wurden für die Weihekinder inzwischen heruntergeschraubt. Jahns Verein rät jetzt zu Heimatbücher.

Die Werte heute klingen nicht neu, aber gut und sehr allgemein: Humanität, Toleranz, Demokratie, soziales Engagement. Man ist vorsichtig geworden. Der Verein hat Angst, wieder den Vorwurf einseitiger Ausrichtung und der Ausgrenzung ertragen zu müssen. Jeder kann sich heute weihen lassen, auch Christen. Man fühlt sich nicht mehr zum Atheismus verpfichtet, weil »ja die Kirche an der politischen Wende mitbeteiligt war«, gibt Jahn zum Besten. Aber im Herbst will man doch noch mit programmatischen Grundsätzen aufwarten, damit man weiß, was man an der Weihe hat. Aber schon jetzt weiß Jahn, daß sie ein »kleiner Beitrag dazu ist, daß die Kinder reifer und klüger werden«.

Deshalb legt man auf einen guten Festredner großen Wert. »Im Normalfall sollte das eine Person des Vertrauens sein«, meint der gelernte Deutschlehrer Jahn und freut sich, daß man auch Landtagspräsidenten und Bundestagsabgeordnete gewinnen konnte. Früher habe er auch Reden gehalten. Manchmal seien die Westverwandten hinterher gekommen, um ihm zu sagen, daß es nicht so furchtbar war, wie sie dachten. Insofern war »eine richtig schöne Feier auch eine Nische im Sozialismus«, bringt er schließlich das Kapitel Weihevergangenheit auf den Punkt. Wer das nicht gemerkt hat, ist wahrscheinlich selbst Schuld. Anja Baum

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