Beckerhecht statt Hummernummer

Harmonie statt Heldentum: Deutsches Team gewinnt Daviscup-Viertelfinale gegen Argentinien  ■ Aus Berlin Michaela Schießl

Da rieb man sich die Augen, klatschte sich die Hände wund und suchte und suchte in der Berliner Deutschlandhalle: Aber umsonst. Die helden- und hummernträchtigste Sportveranstaltung der Welt, der Tennis-Daviscup, blieb diesmal helden- und hummernlos. 3:0 und damit uneinholbar führte das deutsche Team bereits am zweiten Tag der Viertelfinalbegegnung gegen Argentinien. Eine klare Sache also, ohne Hang zur Legendenbildung.

Und dennoch hatte diese Daviscup-Runde etwas Historisches: Das Gleichgewicht der Mächte wurde verändert. Daviscup=Boris plus Anhang? Eine Gleichung, die nicht mehr aufgeht. Denn mit Michael Stich stieß nach jahrelanger Alleinherrschaft von Boris Becker wieder eine starke Persönlichkeit ins Team von Kapitän Niki Pilic.

Schon im Vorfeld war der 22jährige Elmshorner durch gute Leistung und große Klappe aufgefallen: Zuletzt unterlag der Weltranglistenneunzehnte in Key Biscane der Nummer eins, Stefan Edberg, nur denkbar knapp. Und sprach sogleich Sätze, wie wir sie ähnlich philosophisch nur von Becker kennen: Etwa, daß „jeder das Recht hat, seine Meinung frei zu sagen. Das gilt auch für einen Spieler, der 50 Ranglistenplätze hinter Becker steht.“ Denn menschlich gesehen wären im Daviscup-Team alle vier Spieler gleich.

Nur: Spielerisch gesehen ist Becker eine Klasse für sich. Zwar gewann auch Stich sein Einzel gegen Martin Jaite souverän in drei Sätzen mit 7:5, 6:3, 6:4. Doch von den Sitzen riß seine schwerfällige Vorstellung niemand. Es schien fast einen Satz lang zu dauern, bis sich die Kunde vom Matchbeginn durch die volle Länge von Stichs 1,92 m großen Körper verbreitet hatte.

Daß Tennis auch Unterhaltung ist, zeigte Performancekünstler Boris Becker. Der weiß: „6:0 ist die Höchstrafe.“ Auch fürs Publikum. So zelebrierte er sein Einzel voll Spielwitz und Variantenreichtum streng nach der Devise: Nie unter 100 Prozent. Da mag der Gegner noch so unterlegen sein, Becker läßt ihn mitspielen, aus Liebe zum Spiel. Von der vermeindlich schwachen Form des Weltranglistenzweiten war nichts zu sehen. Statt dessen beglückte er beim 6:3, 6:4 und 6:4 gegen Javier Frana die 7.500 Zuschauer mit seiner Fischnummer: Sein Beckerhecht wurde mit standing ovations belohnt.

Seit 1982 ist Boris Becker Mister Daviscup. Der Mann, der den Sieg garantiert. Oder der sich verweigert, wie 1990 gegen Argentinien. Und so die Niederlage besiegelt. Für Eric Jelen ist Becker gar eine absolute Ausnahmeerscheinung. Einer, neben dem es besonders im Doppel unmöglich ist, zu bestehen. So war Jelen der eigentliche Gewinner von Berlin. Denn überraschend wurde nicht Becker, sondern Stich neben Jelen für das Doppel nominiert. Nicht von ungefähr, den gemeinsam mit Udo Riglewski belegt er in der Doppel- Weltrangliste Platz zwei. Doch Pilic zweifelte an Stichs physischen Belastbarkeit. Der arbeite ja ohne festen Trainer, das könne nicht hinhauen.

Doch Stich haute hin. Mit einem gewaltigen Aufschlag, agressiven Netzattaken, mächtigen Grundlinienschlägen. Und mit klugem Vertrauen in Partner Eric Jelen. Ein Doppel, wie man es sich harmonischer kaum vorstellen kann. Und Jelen wuchs: Vom Becker-Handicap zum hochklassigen Doppelpartner. Und man erahnt nur, was er durchgemacht hat, wenn er sagt: „Es ist schwer, immer an Boris gemessen zu werden. Heute waren wir ein gleichwertiges Team. Das ist einfacher zu spielen.“ Eine Attacke gegen den Unerreichbaren? Niemals. „Eigentlich wäre es besser, wenn Boris spielt. Allein die Tatsache, daß er auf dem Platz steht, schüchtert die Gegner schon ein. Ob mit mir oder mit Michael.“ Eric, du treue Seele.

Stich hingegen hat seinen eigenen Kopf, eigene Ziele. Immer wieder bringt er Riglewski ins Gespräch. „Der hätte es verdient.“ Doch auch mit Jelen schaffte er in fünf Sätzen und drei Tie-breaks (7:5, 6:7, 7:6, 6:7, 6:4) den Sieg gegen das eingespielte argentinische Doppel Frana/ Christian Miniussi.

Nicht nur für Niki Pilic ist Stich eine Alternative, sondern auch für Becker. Für ihn kann ein adäquater Ersatz eine Erleichterung sein, sollte er je vom Daviscup ablassen wollen. So war er es, der Stich/Jelen am lautesten anfeuerte. Voller Nervosität hospitalisierte er in der Spielerloge, beklatschte jeden gelungenen Punkt, umarmte in einer Art Übersprungshandlung wechselweise Ersatzmann Carl-Uwe Steeb und sein Getränk. Und wenn's gar zu schlimm wurde, massierte er den vor ihm sitzenden Teamarzt Keul den Nacken.

Konkurrenzprobleme? Boris Becker lacht angesichts solcher Lapalien. Er gönnt jedem den Erfolg vorausgesetzt, dessen Spiel bringt Spaß. Für Spieler und Zuschauer. Becker scheint bessesen von der Spielidee. So verweigerte er sich, als Tennis mehr und mehr zum Treffen der „very important persons“ (Vips) verkam. Die Ränge leer wurden und die abseitigen Hummernstände voll.

Doch sein Protest zeigt Wirkung. Schon in Dortmund, beim Achtelfinale gegen Italien war der Pomp auffällig gering. In Berlin schließlich waren zwar die Ränge nicht vollbesetzt, jedoch der Hummer gänzlich aus der Vip-Lounge verbannt. Und in den Katakomben der Deutschlandhalle tummelten sich ganz normale Menschen: Ein Fest der „venops“ der „very normal persons“.

Viertelfinale: CSFR — Jugoslawien 1;4, Achtelfinale: Frankreich — Israel 5:0, Mexiko — USA 2:3; Viertelfinalpaarungen: Frankreich — Australien, USA — Spanien (der Sieger ist nächster Gegner des deutschen Teams).