Eine innere Angelegenheit

Eine Dokumentarfilmerin berichtet über ihre Erfahrungen im Tibet  ■ Susanne Stein

Es kostete mich jeden Morgen eine halbe Stunde, das Make-up aufzutragen, meine Augen mit falschen Wimpern und Lidstrichen mongolisch aussehen zu lassen, Highlighter aufzutragen, um meine Nase flacher scheinen zu lassen und in mein Gesicht mit einem Stift tiefe Furchen zu ziehen.“ Diese allmorgendliche Verwandlung war für die Dokumentarfilmerin Vanya Kewley lebensnotwendig. Sie hat verbotenerweise und unter schwierigsten Bedingungen einen Dokumentarfilm über den Tibet unter chinesischer Besatzung gedreht. Nach wie vor leiden die Tibetaner unter der chinesischen Herrschaft und den damit verbundenen Repressalien.

In Vanya Kewleys Film, Voices from Tibet, der Anfang März vom englischen Sender Channel 4 ausgestrahlt wurde, äußern sich zum erstmals Tibetaner frei vor einer westlichen Kamera. Kewley schrieb in einem Artikel für die englische Tageszeitung 'The Independent‘ über ihre Erfahrungen und über die Lage in Tibet. Wir dokumentieren Auszüge.

„Wir sind in einem Nomadenzelt untergekommen, noch unterhalb der Schneegrenze, eine Tagesreise von Lhasa entfernt. Die vernünftigste Entscheidung wäre es gewesen, das Projekt abzubrechen. Die Versuchung war sehr groß, der bitteren Kälte, dem Wind und der Gefahr, entdeckt zu werden, zu entfliehen.“

Vanya Kewleys Situation in Tibet war sehr gefährlich geworden, nachdem sie davon erfahren hatte, daß Chinesen in ihr Haus in Lhasa eingebrochen waren und zwei Leute mitgenommen und verhört hatten, die ihren Namen und ihre Pläne verraten hatten. Schon ihr letzter Film und ein Buch hatten die Chinesen verärgert, und sie wurde gewarnt, daß sie inhaftiert würde, falls man sie entdecke. Sie kehrte nach Tibet zurück, um Gerüchten über Mißhandlung der Tibetaner durch die Chinesen auf den Grund zu gehen. Auch wenn die Chinesen erklärten, daß das Kriegsrecht seit dem 1. Mai 1990 aufgehoben sei, kursieren Geschichten über Flüchtlinge, die vor chinesischer Verfolgung fliehen.

Vanya Kewley fand schließlich Schutz in den Bergen. „Der einzige Weg zurück führte über die Berge, um die Grenzübergänge der Chinesen zu umgehen. Für meine Route über die Berge brauchte ich drei Wochen. Ich wurde von Tibetanern geführt. Wir kamen bei Dunkelheit in Lhasa an. Man spürte die Spannung in der Stadt, über die eine Ausgangssperre verhängt war. Ich hörte keine tibetanischen Stimmen. Nichts bewegte sich, nur alte Armeelastwagen fuhren durch die verlassenen Straßen. Später erzählten mir die Tibetaner, daß sie die Nächte fürchten, Angst haben, es könne an ihrer Tür klopfen. Die Armee und die Polizei durchsuchen fast jedes Haus. Hunderte sind bereits verhaftet und unter Folter verhört worden. Die Tibetaner haben aber auch Angst vor ihren eigenen Leuten. Arbeitslosigkeit (in Lhasa circa 70 Prozent) hat dazu geführt, daß einige als Informanten arbeiten. Die chinesische Überwachung geht bis zu intimsten Fragen. So werden zur Geburtenkontrolle die Menstruationsdaten der Frauen registriert. Häufig werden Frauen zur Abtreibung gezwungen, sogar bis in den siebten Monat hinein. Das Krankenhaus wird deswegen auch Schlachthaus genannt.

Die in Tibet stationierten chinesischen Soldaten werden auf 250.000 geschätzt. Der im Fernsehen gezeigte Abzug der Soldaten ist nur Kosmetik gewesen. Er sollte China günstige Handelsbedingungen mit dem Westen ermöglichen.“

Besonders bei Außenaufnahmen mußte Vanya Kewley vorsichtig sein, um nicht von den Soldaten bemerkt zu werden. Aber diese Aufnahmen waren wichtig, damit die Chinesen nicht behaupten können, sie hätte den Film im Studio gedreht. Um nicht erkannt zu werden, hat eine Maskenbildnerin ihr Tricks gezeigt, wie aus ihrem westlichen Gesicht ein tibetanisches wird. Sie mußte auch ihre Interviewpartner mit Bärten tarnen, denn Tibetanern ist es unter Strafe verboten, mit ausländischen Journalisten zu sprechen. Es ist das erste Mal, daß Tibetaner vor einer westlichen Kamera sprechen. Die meisten von ihnen konnten ihr Informationen aus erster Hand geben, da sie selbst schon gefoltert wurden. Alle bestätigten die Gerüchte: Sie wurden systematisch und brutal geschlagen, oft mit Elektroschocks. Ein Mönch aus Lhasa schildert seine Leiden: „Sie schlugen mich mit Eisenstangen auf den Rücken und auf die Brust. Sie folterten mich auch mit Elektroschocks am ganzen Körper und im Mund. Ich kann den Schmerz nicht beschreiben.“

Vanya Kewley stieß bei ihren Nachforschungen auf unvorstellbare Grausamkeiten. „Nonnen wurden nackt ausgezogen, oft auch vergewaltigt. Die Tibetaner berichten von immer grausameren Foltermethoden der Chinesen. Oft werden neue Folterinstrumente extra importiert.“

Asia Watch, eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Washington, beschuldigt China, Tibet als ein Experimentierlabor für Folterungen zu benutzen. Aber weder Asia Watch noch amnesty international haben Zugang zu Tibet. Tibet hat schon oft die Vereinten Nationen angerufen, um Untersuchungen über die Menschenrechtsverletzungen in Tibet zu veranlassen. Aber China, ein Mitglied des Sicherheitsrates, blockte mit der Begründung ab, daß Tibet eine innere Angelegenheit Chinas sei. Vanya Kewley: „Die Tibetaner, die bis jetzt die Grundsätze ihrer buddhistischen Religion beachtet haben und von einem bewaffneten Aufstand abgesehen haben, sind entsetzt über das internationale Schweigen.“