Was schmutzig ist, ist schön

Die „tag“-Kultur entfaltet sich auch in deutschen Städten  ■ Von Wilhelm Schmid

Die Berliner Mauer, die nackten Wände aller möglichen Tunnel und Unterführungen, die langgezogenen U- und S-Bahnen der Städte, die abweisend leeren und in dieser Leere einladenden Mauern der Fabriken und Montagehallen, die Betonfassaden der Hochhäuser, all das einfallslos einfarbig bemalte Mauerwerk bürgerlicher Häuser: Niemals gab es mehr zu tun für eine Kunst, die sich vom Leben nicht trennen lassen will und daher wieder zur Lebenskunst wird. Die Kunst in Parks, Galerien und Museen verbannt zu haben — „tabufreie Plätze, von der Gesellschaft listig und klug geschaffen“, wie einer der wichtigsten Mauerkünstler, Harald Naegeli, sagte —, war eine wirksame Maßnahme, dieses Medium der Lust und der Kritik lahmzulegen. Der Spruch des Züricher Obergerichts, der gegen Naegeli verhängt worden ist, spricht in seiner Offenheit Bände: „Der Angeklagte hat es verstanden, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.“

Mauerkunst ist Lebenskunst, nicht nur, soweit es sich um die Berliner Mauer handelt. Nach deren Verschwinden richtet sich die ganze Aufmerksamkeit vielmehr wieder auf die normalen und gewöhnlichen Mauern der Stadt. Daß die Mauerkunst, diese wilde Kunst und Kunst des Lebens, nicht des Museums — daß diese Kunstform keineswegs nur Dilettanten, sondern Könner kennt, wird deutlich, wenn man sich einzelnen Werken oder Künstlern zuwendet. Etwa Keith Haring, der 1986 eine 100 Meter lange Figurenkette auf gelbem Grund in der Berliner Zimmerstraße malte (auf Einladung des Hauses am Checkpoint Charlie — man hatte dort 1982 einen Kunstwettbewerb zur „Überwindung der Mauer durch Übermalung“ ausgeschrieben). Die Zugehörigkeit der Mauerkunst in Berlin zur internationalen Graffiti-Szene zeigte sich an seiner Person, denn Keith Haring gehörte zur jungen New Yorker Graffiti-Generation der achtziger Jahre. Er, der 1990 31jährig an Aids starb, war 1978 in New York aufgetaucht, um Kunst zu studieren, und war schnell so fasziniert von den Graffitis auf den Metro-Zügen, daß er sich diesen Künstlern anschloß und seine Karriere damit begann, mit weißer Kreide leergebliebene schwarze Werbetafeln in der Metro zu bemalen. Sein Stil war inspiriert von der Technik der Comics, die er parodierte, und fand vielleicht aufgrund dieser Identifizierbarkeit bald den Weg in die Welt der Galerien, die ja mit anonymer Kunst nichts anfangen kann. Keith Haring stellte sich der Herausforderung seiner Epoche: Um Schritt zu halten mit der Welt der beständigen Veränderung, des unglaublich raschen Konsums von Information, müsse der moderne Artist seine Bilder mit einer ebenso großen Geschwindigkeit und Effizienz produzieren. Seine künstlerische Aktivität verband er mit dem politischen Kampf gegen Drogenkonsum und Rassendiskriminierung.

Andere sind weniger bekannt, weil sie in der Anonymität verbleiben und ein Spiel mit der Identität treiben. Sie tragen klingende Namen: 2 fast, Snake 4, Little Hit, Sisco Kid, Test 1, Zephyr, Seen, Crash, Quik, Phase 2, Super Kool, Lady Pink, Futura 2000 — die Liste ist endlos. Zu Beginn der siebziger Jahre erschienen erstmals ihre wilden Signaturen in New York, die aussahen, als kämen sie aus dem Arabischen, und die doch nur aus eigenwillig stilisierten lateinischen Buchstaben bestehen. Sie nennen ihre Schriftzüge tags. Mittlerweile entfaltet sich die tag-Kultur auch in Berlin und anderen deutschen Städten. Der Begriff tag geht vielleicht auf einen Jugendlichen namens Dimitrios zurück, genannt Taki. Am 21. Juli 1971 erschien in der 'New York Times‘ der erste Bericht über einen tagger: Es war Taki 183, dessen Zeichen sich über die ganze Stadt verstreut fanden; die Ziffer bezeichnete die Straße, in der Taki wohnte.

Tag ist eine Grundstruktur von einigen ausgewählten Versalien, bestehend aus Anfangsbuchstaben von Eigennamen oder Institutionen, die zusammengestellt werden, um sie in simpler Form nachzuzeichnen oder — darin zeigt sich das gesteigerte Können — sie dermaßen ineinander zu verschachteln und mit Linien und Farben auszuschmücken, daß ihre Grundstruktur kaum mehr erkennbar ist. Die tag-Ästhetik entfaltet sich zwischen diesem simplen Zeichencode und dem vollendeten Fresko. Die tagger bilden Gruppen gemäß der Zugehörigkeit zu einem Wohngebiet; innerhalb der Gruppen bilden sich jedoch wiederum drei Altersgruppen, entsprechend drei Stilarten: Die 10- bis 15jährigen gehen von den gewöhnlichen kindlichen Sprüchen und Namensritzungen an der Wand zu den tags im engeren Sinne über, die eben aus den stilisierten Schriftzügen bestehen, ihrem selbstgewählten Pseudonym. Die 16- bis 17jährigen Jugendlichen arbeiten ihre tags weiter aus zu dreidimensional erscheinenden farbigen Gebilden mit optischer Sprengkraft. Die 18- bis 20jährigen lösen sich schließlich von konkreten Schriftzügen und gehen über zu regelrechten Freskogemälden. Eine uralte Rivalität tut sich dabei wieder auf: die zwischen Wort und Bild, zwischen Linie und Farbe, zwischen Zeichnung und Malerei — in diesem Fall zwischen den sogenannten taggern, den jüngeren in der Gruppe, und den älteren Freskisten. Die Anforderungen, die aneinander gestellt werden, sind enorm. Der ist am angesehensten, der die Technik perfekt beherrscht und risikoreich arbeitet.

Nur wenige der ausgereifteren Talente sind bereit, die entscheidende Schwelle zur Galerie oder gar ins Museum zu überschreiten: Es wäre die Rückkehr in die bürgerliche Existenz, der sie per Konversion, die in der Wahl des Pseudonyms bestand, den Rücken gekehrt haben. Die meisten dieser Künstler führen eine anonyme Existenz, kenntlich allenfalls an der Stilistik ihrer Werke: etwa Dondi, der vom „Kampf der verschiedenen Stile“ spricht, und für den das Konzept der Graffiti-Kunst darin besteht, kreativ sein zu können, ohne einer Institution anzugehören, die die Kreativität steuert. Oder Futura 2000, der schon 1971, als die Graffitis noch hauptsächlich aus Schriftzeichen bestanden, dabei war und 1984 die kreative Botschaft des anonymen Subjekts nach Moskau und Leningrad exportierte. Oder Rammellzee, ein großer Theoretiker, der ebenfalls hauptsächlich mit Schriftzeichen, den tags, arbeitet — die Sprache ist seine Obsession, ganz strukturalistisch: „Die Menschen bedienen sich nicht der Sprache; es ist die Sprache, die sich der Menschen bedient.“ Die Unordnung der Schriftzeichen in der bestehenden Kultur, in der nebeneinandergestellt wird, was gar nicht zusammengehört, versucht er in eine wirkliche Ordnung zu überführen. Denn auch die reklamierte Wildheit kennt ihre eigenen Formen und Regeln; der chaotische Eindruck resultiert lediglich daraus, daß diese andere Ordnung ungewohnt und unvertraut ist und zur herrschenden Ordnung quersteht.

Eine einzige Geste, sonst nichts, charakterisiert diese Künstler: Diese üben sie ein, bis sie ihnen im Schlaf von der Hand geht. Sie mag spontan erscheinen, aber sie ist sorgfältig ausgearbeitet, und täglich wird weiter daran gefeilt, um das anonyme, aber charakteristische individuelle Signum als Ästhetik der Existenz zu präsentieren; Seite an Seite mit den anonymen Mächten, die die Existenz des Individuums großflächig zu normieren suchen, indem sie die Wände und Mauern mit Versprechungen und Lockungen vollplakatieren. Die tags und Fresken sind eine Alternative zu den ebenso bunten, aber vieltausendfach identisch reproduzierten Werbeflächen, die ihre Sprüche immer häufiger von den Sentenzenkünstlern der Straße klauen. Man kann alle Formen von Graffiti rein formal als eine Produktion von Zeichen beschreiben, die unternommen wird, um nicht in der reinen Konsumtion von Zeichen zu ersticken, die täglich auf die Individuen herabregnen, flächendeckend, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Es ist der Versuch, verzweifelt vielleicht, aber auch voller Esprit, die individuelle subjektive Wahrnehmung (Ästhetik im strengen Sinne) gegen die normierte zu setzen; die Form gegen die Norm; die Affirmation der individuellen Existenz gegen deren Negation durch anonyme Behörden, Institutionen, Konzerne, Massenmedien. Nicht von ungefähr werden diese knallbunten Werke von ihren Urhebern auch als „Bomben“ bezeichnet.

Die Strenge des Gesetzes ist die Schwelle, auf der sich die individuelle Kreativität erprobt und mit Polizei und Gesellschaft spielt: Zum tag gehört das Risiko, entdeckt zu werden. Es geht dabei für das Individuum darum, sich einen Namen zu machen (im doppelten Sinne des Wortes), diesen Namen am Leben zu halten und auf diese Weise die Ästhetik seiner Existenz in Erscheinung treten zu lassen. Freilich ist das Individuum hier nicht wirklich allein, sondern hat gelernt, sich zu organisieren und sich in der Gruppe zu bewegen, die ein Rhizom ist, ein Pflanzenwerk, das seine Wurzeln im Untergrund hat. Die untereinander vernetzten einzelnen vollziehen die Inschrift ihrer Existenz auf den Mauern, um sich auf diese Weise zu Wort zu melden; sie beschriften die Leere einer Gesellschaft, deren Obstination die käuflichen Güter sind.

Die tags sind von denen, die sich in der scheinbaren Komplexität dieser Art von Schrift auskennen, relativ leicht zu entziffern; sie sind von den taggern, die sich untereinander kennen und die miteinander rivalisieren, ohne weiteres einem bestimmten Individuum zuzuordnen, denn der einzelne ist ja durchaus daran interessiert, auf eine verschlüsselte Weise erkennbar zu sein, aber denen zu entkommen, die diese bescheidene Entfaltung der Kreativität unter die Fuchtel von Recht und Gesetz stellen wollen. Es geht dabei um die Vision einer anderen Kultur, die im visuellen Raum von den Graffitis repräsentiert wird, im akustischen Raum von der Rap-Musik. Es ist ein entscheidender politischer Impetus der Lebenskunst, zu der die Mauerkunst geworden ist, gegen jedweden Rassismus aufzutreten. Und welches Aufatmen ging durch Berlin, als endlich das Wundermittel gefunden war, um die unliebsamen Parolen, die man für arabisch hielt, auszulöschen.

Es geht also bei der Mauerkunst um die Erprobung einer neuen Lebenskunst, zu deren Technologie die tags geworden sind. Man kann eine Mode darin sehen — Mode im besten Sinne des Wortes: eine Art und Weise des Lebens, ein Modus, den jede Generation auf ihre eigene Weise sich erarbeitet. Man nimmt sich in der tag-Generation die Freiheit, die ethisch-ästhetischen Kategorien einer Umkehrung zu unterziehen: Ist ein Werk gelungen, ist es „schlecht“; ist es schön, gilt es als „schmutzig“. Man muß sich also vorsehen, einen Titel wie den der Rap-Band 2 Live Crew, der in den USA verboten wurde, vorschnell abzuurteilen: As Nasty As They Wanna Be.

Der Ort, an dem sich diese Kunst entfaltet, ist für ihr Gelingen unentbehrlich. Die Versuche, sie auf Leinwände aufzutragen und in Galerien zu bringen (Inside Graffitis), scheitern zwangsläufig, denn auf abgegrenzten, relativ kleinen Flächen zu arbeiten, die noch dazu isoliert an weißen Wänden hängen, stellt ganz andere Bedingungen, erfordert andere Techniken und wirkt schließlich auch ganz anders als die Freiluftmalerei im Milieu. Das tiefverwurzelte historische Recht der Mauerkunst wird mittlerweile von verschiedenen Seiten entdeckt, beispielsweise von Jackie Lafortune, Lehrbeauftrager für Graffiti-Kunst an der Universität Paris VIII: „Alt wie die Welt, hinterließen die Graffitis ihre Spuren in zahlreichen Zivilisationen.“ Er entfaltet die Genealogie der Wandmalerei in Europa, die man bis zur Höhlenmalerei von Lascaux zurückverfolgen kann und für die an die griechisch-römisch-christliche Tradition der Fresken zu erinnern ist. Norman Mailer, der schon 1974 über die Graffiti schrieb, erinnerte an die Fresken Giottos, die ja ebenfalls eine Mauerkunst sind. Die Kunst der tags hat durchaus mit der abendländischen Tradition der Kalligraphie zu tun, Praxis auch der christlichen Mönche. Was die unmittelbaren Vorläufer der Mauerkunst angeht, verweist Jackie Lafortune auf den mexikanischen Maler Rivera, vor allem aber auf die schwedische Malerin Siri Deckert, die bereits Ende der fünfziger Jahre den Ort der Ausübung ihrer Kunst in die Metro-Stationen zu verlagern begann und die Kunstbewegung des Kubismus wie des Expressionismus fortführte. Bilder, die auf Mauern in Paris zu sehen waren, zeigte wiederum Brassai 1957 in New York. Das ganze Spektrum der modernen Kunst steht im Hintergrund der Kunst, die man auf Mauern findet: Impressionismus und Expressionismus, Kurt Schwitters und der Surrealismus, Picasso und der Kubismus, Dada und Dubuffet, Action painting und Comics, schließlich auch Paul Klee, der einige Male „Schrift-Bilder“ schuf, bei denen er mit der Möglichkeit experimentierte, die Ästhetik des Alphabets anders zu organisieren und plakativ zu präsentieren.