DEBATTE
: Die dritte Atombombe

■ Der Golfkrieg bedeutet eine mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vergleichbare weltpolitische Zäsur

Die am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfene erste Atombombe, der drei Tage später eine zweite auf Nagasaki folgte, war bekanntlich ursprünglich für den Einsatz gegen Deutschland vorgesehen. Da aber das Deutsche Reich bereits drei Monate zuvor kapituliert hatte, plädierte dann ein Teil der für die Entwicklung und den ersten Test am 16. Juli zuständigen Wissenschaftler gegen den militärischen Einsatz — allenfalls sollte man mit der Bombe drohen, um die ohnehin sich bereits abzeichnende Verhandlungsbereitschaft der japanischen Regierung zu beschleunigen.

Aber Politik und Militär kalkulierten anders: Erstere wollte — man war mitten in der Potsdamer Konferenz — mit der Bombe ein Warnsignal an Stalin geben, und letztere wollten sowohl den Krieg verkürzen als auch das waffentechnologische Wunder in der Praxis erprobt sehen; und die Merhheit der Wissenschaftler und Techniker dachte wie sie.

Wir datieren von diesem 6. August 1945 das atomare Zeitalter und wir wissen, daß das keine bloße Redewendung darstellt, sondern einen weit über Militärisch-Politisches hinausgehenden menschheitlichen epochalen Einschnitt markiert. Der Golfkrieg bedeutet eine mit jenem Datum vergleichbare weltpolitische Zäsur.

Die Waffentechnologen befreien sich von einer Zwangsjacke

Wenn die Berechnungen richtig sind, denen zufolge die Sprengwirkung der alliierten Bomben täglich die Zerstörungskraft der beiden auf Japan abgeworfenen Bomben hatte, so kann man sich ausmalen — oder eben gerade nicht —, was „dort unten“ geschehen sein muß und worüber während der Kampfhandlungen und auch danach bis heute geschwiegen wurde und worüber sich vermutlich noch für lange Zeit der Mantel von Zensur und Schweigen ausbreiten wird; auch die irakische Regierung hat, um die Schwere der Folgen ihrer kriminellen Risikopolitik zu vertuschen, kein Interesse an der Wahrheit über die Menschenopfer. „Mit Mann und Roß und Wagen“ titelte 'Die Zeit‘ biblisch — und die wenigen Bilder, die wir zu sehen bekamen, waren genauso grauenvoll.

Für die Waffentechnologen war dieser Krieg der Glücksfall, auf den sie seit Jahrzehnten (in Vietnam waren ihnen noch zu sehr die Hände gebunden gewesen und war die Öffentlichkeit zu präsent) gehofft hatten. Sie hatten ein Vorspiel — aber eben ein Vorspiel nur — 1985, als die amerikanische Flotte zur Unterstützung der irakischen Armee gegen die iranische flankierend eingriff (um die internationalen Seewege für den Ölstransport zu sichern, wie es damals hieß).

Jetzt, 1991, konnten endlich all die neuen Vernichtungswaffen praktisch eingesetzt werden, womit die Militärführung ihre Kriegsmaschinerie seit Jahren aus- und aufgerüstet hatte. Die „Wissenschaft“ hatte daran gearbeitet, endlich die Zwangsjacke der politisch nicht oder nur sehr schwer einsetzbaren ABC- Waffen abzuwerfen und dieselben Zerstörungskapazitäten konventionell zu entwickeln. Der Golfkrieg lieferte den Beweis, daß das gelungen ist: Nunmehr gibt es Massenvernichtungsmittel, die, im Unterschied zu atomaren, biologischen und chemischen Tötungstechniken, mit dem Anspruch auftreten können, „Waffen“ und damit legitim, eben „konventionell“ zu sein.

Die bisher geltende scharfe Trennungslinie wurde aufgehoben, konventionelle Massenvernichtungsmittel gehören von nun ab zum legitimen, einsetzbaren Arsenal der Politik. Insofern markiert dieser Krieg eine neue Qualität: Die „dritte Atombombe“ ist entzündet worden.

Biologische und chemische „Waffen“ galten schon seit langem als die Antwort der schwachen Militär-Politikspieler auf das Atommonopol der Großen; daß erstere eines Tages auch über atomare „Waffen“ verfügen würden, galt und gilt nur als eine Frage der Zeit. Die Zerstörung von Ghadaffis Rabta-Fabrik war für die Großmacht USA ebenso logisch wie deren heutige Forderung, das irakische Chemiewaffenpotential zu vernichten, ehe sie sich militärisch aus diesem Land zuürckzieht.

Denn bis Drittweltländer so weit sind, über die neuen technologisch höchstentwickelten konventionellen Massenvernichtungsmittel zu verfügen, die ihnen das erfolgreiche Mitspielen auf der Ebene internationaler Machtpolitik gestatten, dürfte noch viel Zeit vergehen. Dieses Monopol der kapitalistischen Industriestaaten ist auf absehbare Zeit kaum zu brechen.

Der Adressat der US-Politik ist nicht Saddam Hussein

Insofern hatte die amerikanische Politik — wie schon 1945, beim Abwurf der ersten beiden A-Bomben — im Golfkrieg ganz andere Adressaten als den unmittelbaren Kriegsgegner, damals das militärische Regime Japans, heute den Kleindiktator Saddam Hussein. Der in sechsstelligen Tötungszahlen gemessene heutige Triumph der Waffentechnologen über die irakische Armee und der von ihnen bedienten Rüstungsindustrien ist eine Sache, die strategischen Ziele der US-Regierung aber sind eine andere Sache — hier geht es um Größeres, um eben die vielzitierte Neue Politische Ordnung.

„Indem sie ihre Entschlossenheit zu einem Holocaust der Zivilbevölkerung in großem Stil bewiesen“, schreibt der französische Kriegsphilosoph Paul Virilio über die A-Bombe von 1945, „riefen die Amerikaner im Bewußtsein des Gegners jene Informationsexplosion hervor, die Albert Einstein gegen Ende seines Lebens als ebenso verheerend ansah wie die Atomexplosion selbst. Hier regierte bereits das Prinzip der Abschreckung.“

Das Intermezzozwischen zwei Alpträumenist schon vorbei

Mehr als 40 Jahre haben wir unter dem Alptraum des Hiroshima-Erbes gelebt, unter der Möglichkeit des nuklearen Holocaust, dessen mahnende Monumente zwei total vernichtete Stadtbevölkerungen waren und deren wenige Überlebende und ihre geschädigten Nachgeborenen bis heute an jenen furchtbaren Beginn des Atomzeitalters erinnern, das auch eine Neue Politische Ordnung des Weltfriedens hatte begründen sollen. Für den kurzen Zeitraum eines Jahres schienen wir aus dem Alptraum erwachen zu dürfen — aber die ältere, historische Logik politischer Unvernunft hat sich wieder durchgesetzt. So könnten, so werden — wenn wir in historischen Analogien denken — wohl mehr als 40 Jahre eines neuen Alptraums vor uns liegen, sofern da nicht Schritte unternommen werden, aus dieser Logik, der Kriegslogik der Machtpolitik von Regierungen und Staaten, auszusteigen.

„Es ist nicht zu hoffen, aber es ist alles zu tun“, wie Gustav Landauer einmal formulierte. Über den Golfkrieg dürfen wir nicht (obwohl alles versucht wird, eben das durchzusetzen) wieder zur Tagesordnung zurückkehren, so als sei eigentlich nichts Neues geschehen, als sei die dritte Bombe nicht gefallen. Wenn wir uns damit einrichten und resiginierend abfinden, wenn wir die Diskussion über die dramatische Bedeutung dessen, was hier soeben passiert ist, versanden lassen (z.B. weil wir mit den enormen sozialpolitischen Problemen in unserer Provinz Deutschland zu sehr beschäftigt sind), dann stehen uns in der Tat „40 Jahre“ eines gewalttätig-explosiven neuen Alptraums bevor. Ekkehart Krippendorff

Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin