Jeder ist Opfer der Besatzung

■ In der von Israel annektierten „Sicherheitszone“ im Südlibanon herrscht der Glaube an die Macht der Gewehrläufe Trotz der Niederlage Saddam Husseins fühlen sich die Palästinenser dort nicht als Verlierer/ Von Leila Burhani

Die Straße von Beirut nach Saida führt fast die ganze Zeit am Mittelmeer entlang. Der strahlend blaue Himmel und die Gipfel des Libanongebirges zur Linken lassen fast vergessen, daß das Land gerade dabei ist, die Wunden des 15jährigen Bürgerkrieges zu heilen. Aber die Spuren des Krieges und der israelischen Invasion von 1982 sind überall präsent. Auf der Linken, auf einem den Bergen vorgeschobenen Hügel, ragt aus den Ruinen des Dorfes Berja noch der Kirchturm hervor. Berja ist nicht das einzige zerstörte Dorf. Kaum ein Haus an der Straße, an dessen Fassade nicht mindestens die Spuren von Einschlußlöchern zu sehen sind. Und doch ist hier alles voller Leben. Am Straßenrand verkaufen Bauern Kartoffeln, Salatköpfe und Dibbis Charoub, den dicklichen Sirup des Affenbrotes. In einem Haus, dessen oberstes Stockwerk in sich zusammengefallen ist, hat eine Autowerkstatt eröffnet, und überall wird gebaut.

Immer wieder wird die Autokolonne von syrischen oder libanesischen Soldaten angehalten. Am Ortseingang von Saida wechselt die Farbe der Uniformen.

„Befreites Gebiet“, sagt der Palästinenser Fathi, als wir in das Taxi umsteigen, das uns nach Ein El-Hilweh bringt, und zeigt auf eine Zeitung neben dem Fahrersitz mit einem ganzseitigen Porträt Saddam Husseins. Saida wird bis heute von nasseristischen Milizen und Palästinensern kontrolliert. Aber nicht mehr lange.

Nachdem Anfang Februar die libanesische Armee im Südlibanon bis hin zu dem von Israel besetzten, sogenannten Sicherheitsstreifen stationiert wurde, sollen innerhalb des nächsten Monats die Milizen entwaffnet und aufgelöst werden. Dann, so der Plan, wird auch hier die libanesische Armee, unterstützt von den Syrern, Einzug halten.

Ein El-Hilweh liegt am östlichen Stadtrand von Saida. In den letzten zehn Jahren wurde das Lager zweimal fast völlig zerstört, während der israelischen Invasion 1982 und während des Lagerkrieges der Schiitenorganisation Amal gegen die Palästinenser. Heute sieht man fast überall hinter den hohen Mauern, welche die kleinen Innenhöfe von den engen verwinkelten Gassen abschirmen, neue ein- und zweigeschossige kleine Häuser. „Innerhalb von drei Monaten war alles wieder aufgebaut, teilweise noch unter den Bombardements“, sagt Haschem, der uns durch das Lager führt. Er ist Mitglied des Lagerrates, einer Art Selbstverwaltungsgremium.

Bis heute bombardieren israelische Flugzeuge immer wieder die palästinensischen Flüchtlingslager im Südlibanon. Erst eine Woche zuvor waren dabei in Mieh Mieh, einem anderen Flüchtlingslager, fünfzehn Menschen ums Leben gekommen.

„Das größte Problem“, sagt Haschem, „sind die Flüchtlinge, die während der Kriege mit Amal aus den kleineren Lagern nach Ein El- Hilweh kamen.“

Umm Bassim war noch ein Kind, als ihre Familie aus Safad im heutigen Israel noch Bourj Al-Schimali floh. Bourj Al-Schimali gibt es inzwischen nicht mehr. Ihren Mann hat sie während der Lagerkriege verloren. Sie floh mit ihren neun Kindern nach Ein El-Hilweh. Zwei Jahre lebte sie mit Hunderten von anderen Flüchtlingen in der Schule. Manche schliefen sogar monatelang auf der Straße.

„Wir alle träumen vom Märtyrertod“

Inzwischen hat das Lagerkomitee, so gut es kann, Abhilfe geschaffen. Sechs Reihenbetonhäuser, mit Wellblech provisorisch abgedeckt, vier Toiletten für fünfzig Familien. Umm Bassim lebt mit ihren neun Kindern in einem Raum. Ein Campingbett, drei Matratzen und ein paar Wolldecken, die ihr die Fedayin gebracht haben. Das ist alles, was sie besitzt. Lediglich einer ihrer Söhne hat Arbeit, und das auch nur vier Tage in der Woche. Mehr als fünfzig Prozent aller hier lebenden Männer sind arbeitslos. Viele der umliegenden Fabriken und Plantagen, auf denen die Palästinenser früher als Tagelöhner ihr Geld verdienten, wurden während der Kriege zerstört, ihre Besitzer wanderten aus.

„Israel hat alles genommen, meine Nachbarn, meine Familie, es hat mein Leben zerstört. Und den Rest haben sich die islamischen Brüder genommen.“ Sie will zurück nach Palästina. Erst dann, meint sie, habe das Leiden ein Ende.

„Wir haben nichts zu verlieren“, meint mein Begleiter Fathi. An einer Häuserwand hängt ein Plakat mit den Fotos von fünf Jugendlichen. Sie sind vor einem Monat erschossen worden, als sie versuchten, in den von Israel besetzten „Sicherheitsstreifen“ im Südlibanon einzudringen, bevor sie selber einen Schuß abgeben konnten. „Das Wichtigste ist, daß die Israelis merken, daß es für sie keine Sicherheit gibt, bevor nicht das Palästinaproblem gelöst ist. Wir alle träumen davon, den Märtyrertod zu sterben“, sagt Fathi beinahe beiläufig.

Die Palästinenser in Ein El-Hilweh haben während des Golfkrieges auf Saddam Hussein gesetzt. „Nicht aus Liebe zu Saddam und nicht aus Liebe zum Krieg“, sagt Abu Said, Verantwortlicher der „Demokratischen Front“ in Ein El-Hilweh. „Endlich einmal hat ein arabischer Führer ,nein‘ zu Amerika gesagt. Irak war gegen Amerika und damit auch gegen Israel.“ Abu Said fühlt sich durchaus nicht als Verlierer. Für ihn ist die irakische Niederlage nur eine verlorene Schlacht in einem langen Kampf. „wir führen jetzt schon 26 Jahre lang Krieg gegen Israel. In dieser Zeit gab es viele Kriege zwischen arabischen Staaten und Israel. Jedes Mal hofften wir, einer Lösung des Palästinaproblems näher zu sein. Wir Palästinenser haben nie resigniert. Jede arabische Niederlage hatte einen Aufschwung der palästinensischen Revolution zur Folge. Und auch jetzt werden wir uns auf unsere eigenen Kräfte zurückziehen müssen — auf die Intifada in den besetzten Gebieten.“

Den Versuch, die PLO ausschalten zu wollen, hält er nicht erst für das Ergebnis des Golfkrieges. „Die Syrer haben es versucht, direkt und mittels der Amal-Milizen. Und die Amerikaner haben den Dialog mit den Vertretern der PLO abgebrochen, schon bevor der Irak Kuwait besetzte.“

So denken die meisten hier in Ein El-Hilweh. Abu Hitham war Landarbeiter, wurde 1982 verwundet und dann verhaftet. Heute ist er Invalide. Sein zweijähriger Sohn läuft mit einem Holzgewehr durchs Zimmer. Nur die Tochter vergräbt ihr Gesicht im Schoß der Mutter. Seit dem Krieg mit Amal fängt sie bei jedem Schuß an zu weinen. „Wir alle arbeiten im Widerstand. Hier in Ein El-Hilseh findest du niemanden, der gegen die PLO ist. Die PLO ist mehr als eine Organisation. Sie ist unsere Identität. Wir tragen in einer Hand den Olivenzweig, aber wenn die Israelis unbedingt Krieg wollen, sollen sie ihn haben. Solange wir unser Gewehr haben, geht es uns gut...“, sagt Abu Hitham.

Zwiespältige Haltung gegenüber der PLO

Aber genau dieses Gewehr, das für die Palästinenser im Libanon zum Symbol ihrer Unabhängigkeit und ihres Freiheitskampfes geworden ist, steht jetzt zur Diskussion. Offiziell wurde die Frage, was mit den 10.000 palästinensischen Fedayin geschehen soll, erst einmal vertagt. Inoffiziell heißt es jedoch: Was für Libanesen gilt, müsse auch für Palästinenser gelten. Die Entwaffung der Palästinenser war eine der Forderungen des amerikanischen Außenministers James Baker gegenüber der libanesischen Regierung während seiner letzten Rundreise durch den Nahen Osten.

„Wir haben nichts gegen die Stationierung der libanesischen Armee im Libanon. Aus Iqlim Al-Tuffah, wo Truppen von uns stationiert waren, haben wir uns sofort freiwillig zurückgezogen. Aber wir haben Angst, daß der libanesische Staatspräsident Hrawi die Armee gegen die Palästinenserlager einsetzen will“, sagt Adnan. Er gehört der palästinensischen Führung im Libanon an. „Seit drei Monaten fordern wir von der libanesischen Regierung einen Dialog über die Wiederaufnahme offizieller Beziehungen zur PLO und die Wiedereröffnung des PLO-Büros, das 1982 von den Israelis geschlossen wurde. Aber sie haben nur Offiziere geschickt, um technische Fragen abzuklären.“

In den Dörfern des Südlibanon ist die Meinung der Leute über die Palästinenser gespalten. Manche glauben, erst die Palästinenser hätten den Israelis den Vorwand für die ständigen Übergriffe auf den Südlibanon geliefert. Und die Palästinenser hätten sich wie alle anderen Milizen aufgeführt — anders als die libanesischen Widerstandskämpfer, sagt Ghassan, der der „Syrisch-Nationalen Partei“ angehört und dessen Schwager Mohammed Suleiman bis zu seiner Ermordung den libanesischen Widerstand gegen die Israelis im Süden koordinierte.

Ghassan ist nicht gegen den palästinensischen Widerstand an sich, aber er ist dagegen, daß sich die Palästinenser in die innerlibanesischen Auseinandersetzungen einmischen.

„Wir setzen uns für gute Beziehungen zwischen dem libanesischen Staat und den Palästinenser ein. Das bedeutet nicht, ihnen die Waffen abzunehmen. Denn es ist ihr Recht, solange zu kämpfen, bis sie ihren eigenen Staat haben. Schon der Gründer unserer Organisation, Iman Musa Sadr, hat zur Verteidigung des palästinensischen Widerstandes aufgerufen“, sagt auch Ali Ayuschi, Sekretär der Schiitenorganisation Amal für den Südlibanon.

Vergessen scheinen die Zeiten des fast zweijährigen Krieges gegen die Paläsinenserlager in Beirut und im Südlibanon. „Als vor zwei Jahren die Kämpfe zwischen Hesbollah und Amal um die Vorherrschaft im Süden begann, setzten die Palästinenser auf die militärisch überlegene und von Syrien unterstützte Amal. Dafür konnten sie dann überall mit Waffen rumlaufen“, erzählt später Ali Sarur, der mich zu dem Hauptquartier von Amal im Südlibanon gebracht hat. Er ist Kommunist, aktiv im südlibanesischen Widerstand und war zwei Jahre lang im israelischen Gefangenenlager Ansar.

Das Hauptquartier von Amal liegt auf einem kleinen Hügel neben dem Dorf Al-Beisaria. Ein paar zweistöckige Häuser sind um einen viereckigen Exerzierplatz gruppiert. Aus einem Megaphon, das auf eines der Dächer montiert ist, schrillt von einer Kassette die Stimme eines Muezzin, der zum Mittagsgebet ruft. Etwa zwei Dutzend Milizionäre marschieren im etwas ungeordneten Gleichschritt auf und ab — ein eher symbolischer Akt, den Anfang Februar hat Amal ihre Stellungen im Südlibanon der Armee übergeben. Nur halb freiwillig, meint Ali.

Zwangsrekrutierung durch Israels Söldner

Durch den Krieg zwischen Amal und Hesbollah wurden mehr libanesische Dörfer zerstört als während der israelischen Invasion 1982. Ali zeigt mir seine beiden Hände: „Siehst du die Narben auf den Fingergelenken. Das ist nicht aus Ansar. 1986 wurde ich von Amal gefangengenommen. Sie haben mir alle Finger gebrochen. Heute reden sie vom Widerstand gegen Israel. Aber als sie den Süden beherrschten, hielten sie uns gewaltsam vom Widerstand ab. Sie haben willkürlich Leute festgenommen und jede politische Aktivität verboten.“

Ali Sarur und Ghassan gehören der Organisation der ehemaligen Gefangenen aus Ansar an. Es gibt kaum eine Familie im Südlibanon, aus deren Reihen nicht schon mal jemand in israelischer Gefangenschaft war. Heute verfolgt die Organisation das Schicksal derjenigen Libanesen, die noch immer in israelischer Haft sind: mindestens 100. Die Dunkelziffer kennen sie nicht. Es gibt mehr als 5.000 Verschwundene im Libanon. Wir fahren Richtung Nabatiyeh, Hauptstadt des Südlibanon. Zur Rechten auf den Hügelkuppen sieht man israelische Stützpunkte. Dort fängt die sogenannte Sicherheitszone an, libanesisches Gebiet, das die Israelis 1978 annektierten. Sie bauten dort eine Miliz aus libanesischen Söldnern auf, die heute von dem Ex- Offizier Lahad angeführt und direkt aus dem israelischen Verteidigungshaushalt bezahlt wird. Bis heute leben dort noch 120.000 Menschen, von ihren Verwandten im Norden abgeschnitten.

Viele, vor allem junge Männer, flohen nach Westbeirut oder wanderten aus, um den Zwangsrekrutierungen durch Lahad und die Israelis zu entgehen. Immer wieder dringen von hier aus israelische Panzer in Richtung Norden vor, durchkämmen Dörfer und verschleppen Leute. „Es gibt im ,Streifen‘ 400 politische Gefangene, darunter 35 Frauen“, erzählt Ali. Sie wurden verhaftet, weil sie der Widerstandsbewegung geholfen haben, politischen Parteien angehören oder aber nur, weil sie sich weigern, mit den Israelis zusammenzuarbeiten. Nicht einmal das Rote Kreuz kann sie besuchen. Die Israelis behaupten, sie hätten mit den Gefangenen nichts zu tun. Es sei allein die Sache von Lahads Truppen.

„Der letzte, von dem wir wissen, ist Kamal Said, ein Lehrer, der im 'Streifen‘ wohnt und in Nabatiyeh arbeitet. Er wurde am 19. März an einem der Checkpoints verhaftet“, sagt Ali.

Am Rand von Nabatiyeh liegt ein vierstöckiges fensterloses Gebäude, die ehemalige Tabakverwaltung. Während der israelischen Besatzung wurde es Gefängnis. Auch Ali und Ghassan waren hier gefangen. Heute scheint wieder Leben eingekehrt zu sein. Vor den ehemaligen Zellen, zwischen Gerümpel aus Bauschutt und Haufen von Feuerholz flattert frischgewaschen Wäsche und vor den ehemaligen Zellen stehen lange Reihen mit Blumentöpfen. Ghassan und Ali suchen vergeblich die Zelle, in der sie damals verhört wurden. Ihre Augen waren damals verbunden gewesen.

Als Rache: willkürliche Bombardements

Plötzlich taucht eine Frau hinter uns auf: „Ich weiß, wo die Zellen sind. Immer kommen Gefangene hierher.“ Sie führt uns zu einer breiten Treppe, die in das Kellergeschoß führt, und Ghassan erinnert sich. Hier stand er vier Tage und Nächte, ohne Essen und Trinken, mit einem schwarzen Sack über den Kopf gestülpt, und wartete auf sein Verhör.

Heute wohnen in dem ehemaligen Gefängnis 30 Flüchtlingsfamilien. Wie die Frau, die uns zu den Zellen geführt hat, kommen die meisten aus Kafr Roman, einem Dorf an dem Hügel gegenüber, direkt unterhalb des israelischen Spähpostens. Von der Tür des kleinen Ladens, den sie in einer der Zellen eröffnet hat, kann sie die Trümmer ihres Hauses sehen. „Jedesmal nach einer Widerstandsaktion gegen Lahad oder die Israelis bombardieren sie als Vergeltung völlig willkürlich irgendwelche Dörfer an der Grenze. Es war vor zwei Jahren, um 6 Uhr morgens, als die Bombe in unser Haus einschlug. Wir schliefen naoch. Mein Mann hat damals sein Bein verloren. Seitdem leben wir hier. Und selbst hier fühlen wir uns nicht mehr vollkommen sicher“, sagt sie und zeigt auf ein Loch mit einem Meter Durchmesser im oberen Stockwerk des Gebäudes.

Die meisten der Familien haben noch Land in Kafr Roman, auf dem sie im Sommer Weizen anbauen. Aber im letzten Jahr bombardierten israelische Flugzeuge auch die Felder und die Ernte verbrannte.

Ali und Ghassan glauben nicht, daß sich Israels Militär aus der Sicherheitzone zurückziehen wird, selbst wenn es zur Entwaffung der Palästinenser käme. Sie werden neue Vorwände finden. Am gleichen Tag, an dem der Lehrer Kamal Said verhaftet wurde, erklärte Micha Tamer, der Oberkommandierende der israelischen Truppen im 'Streifen‘, solange die libanesische Armee ein Ausführungsorgan der Syrer und die libanesische Armee von „Terroristen“ durchsetzt sei, sei an einen Rückzug nicht zu denken.

Und so lange wird auch der Widerstand weitergehen. Die Forderung, auch den Widerstand zu entwaffnen, mußte der libanesische Staatspräsident Hrawi nach einem innenpolitischen Aufschrei des Protests wieder zurücknehmen. Der Widerstand gegen die israelische Besatzung sei nationale Aufgabe aller Libanesen, ließ er durch seinen Minister Al-Baris ausrichten.