Wenn der Tüv mal wieder fällig ist

Gesundheits-Check-up macht jeden zweiten zum Patienten/ Laborwerte bestimmen zunehmend unser Wohlbefinden  ■ Von Eva Schindele

Mit den Worten „der Tüv ist mal wieder fällig“ betritt der etwa dreißigjährige Patient das Sprechzimmer. Er wirkt gut durchtrainiert und seine Bräune läßt auf den häufigen Gang ins Sonnenstudio schließen. Die Nachfrage des Arztes, ob er irgendwelche Beschwerden habe, weist er entschieden von sich: „Ich will mich nur einmal wieder durchchecken lassen.“ Andere Patienten kommen regelmäßig zur „Inspektion“ zum Doktor, reden vom „Fahrgestell untersuchen lassen“, von ihrer „Pumpe“ oder vom „Abschalten“. Die Sprache verrät, wie weitgehend das Maschinenmodell bereits unsere Selbstwahrnehmung prägt, vermutlich sogar zu unserem stillschweigenden Vorbild geworden ist.

„Uns stört, was nicht maschinisierbar ist“

Leben ist Risiko. Und unser größtes Risiko ist es, irgendwann einmal zu sterben. Altern und Tod gehören zum Leben. Darüber kann auch das ausgeklügelste Medizinsystem nicht hinwegtäuschen. Wieviel besser haben es da die Maschinen. Sie können bei guter Wartung immer funktionstüchtig bleiben; rostet ein Teil wird es durch ein identisches ersetzt. Sollen wir sterbliche Existenzen da nicht neidisch werden und zumindest so tun, als ob auch wir immer laufen, laufen, laufen — unverwüstlich wie jenes deutsche Auto, das mit dem bundesrepublikanischen Wohlstand eng verbunden ist. „Uns stört an uns selbst, was nicht maschinisierbar ist: Gefühlsabhängigkeit, unberechenbare Komplexität, Uneindeutigkeit, Unzuverlässigkeit“ — schrieben bereits 1983 die Sozialwissenschaftler Arno Bammé und Renate Genth, Mitautoren des Buches Maschinen- Menschen, Mensch-Maschinen. Die Schwankungen des Lebens, die Störungen und Konflikte, verursacht durch Krankheit oder Traurigkeit, aber auch Verliebtsein und Ausgelassenheit sind der Sand im Getriebe. Auch Frauen in ihrem zyklischen Erleben von Menstruation, in ihrer Möglichkeit zu gebären, gelten als unzuverlässig, gemessen an dem von Mann und Maschine bestimmten linearen Produktionsablauf.

Auch physisch wird der Mensch immer stärker zum maschinenhaften Funktionieren reguliert. Schon längst ist er selbst zur Schwachstelle, zum Störfaktor in den von ihm geschaffenen, nach maschinellen Kriterien funktionierenden Systemen geworden.

Um so verständlicher wird, daß sich der „industrialisierte“ Mensch gegen die gefahrvolle, unübersichtlich gewordene Umwelt absichert, indem er individuell jedes Risiko zu eliminieren versucht. Unser „Leben“ soll kontrollierbar werden, und oftmals verwechseln wir die Begriffe „Leben“ und „Gesundheit“. Unseren Körper überlassen wir regelmäßig dem medizinischen Kundendienst zur „Inspektion“. ExpertInnen sagen uns dann, ob wir gesund oder krank sind. Und als „artiger“ Patient weiß man, daß Gesundheit weiniger mit dem eigenen Wohlfühlen zu tun hat, als mit den vom Arzt als „normal“ eingestuften Laborwerten von Blut oder Urin.

„Gesundheit — den ersten Schritt müssen sie selber tun“, steht auf einem Plakat in der Praxis eines Allgemeinarztes. Auf Herz und Nieren kann sich seit dem 1.Oktober 1989 jeder Mann und jede Frau ab dem 36. Lebensjahr untersuchen lassen und zwar auch dann, wenn er oder sie sich gesund fühlen. Nach ersten Auswertungen der Daten des neu eingeführten Gesundheits-Check-up spricht das Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung von „einer guten Effektivität, die diese Präventionsleistungen erwarten lassen“. Für wen? Vermutlich ist damit eher dem Geldbeutel der ÄrztInnen als den PatientInnen geholfen. Auf keinen Fall haben die Vorsorgeuntersuchungen die Kosten im Gesundheitswesen reduziert, denn die routinemäßige Untersuchung beschwerdefreier ArztbesucherInnen weist eine systemimmanente Eigentümlichkeit auf. Je gründlicher ein Check-up betrieben wird, um so größer ist die Gefahr, daß aus einem Gesunden ein Kranker wird. Bestimmt fördert die chemische Analyse von Blut, Speichel und Urin, der Belastungstest oder der Ultraschall irgend etwas zu Tage, was außerhalb der „Norm“ liegt und deshalb häufig eine medikamentöse Behandlung rechtfertigt. Die bisherigen Studien zeigen dann auch, daß bei jeder/m zweiten TeilnehmerIn unter 45 Jahren eine neue Diagnose dokumentiert wird. Neben orthopädischen und Hauterkrankungen stehen erhöhter Blutdruck und Erkrankungen der Psyche mit an vorderster Stelle der neu-erkannten Diagnosen. Verwundert fragt sich der Laie wie ein Befund „krankhafte Psyche“ aufgrund eines labortechnischen und apparativen Check-ups durch Allgemeinärzte fetsgestellt werden kann. Welche Auswirkungen eine solche Diagnose auf die PatientInnen hat, verschweigt die Studie.

Krankhafte Psyche und hoher Cholesterinwert

An erster Stelle aller Diagnosen steht ein erhöhter Cholesterinspiegel, der als Risikofaktor für Herzinfarkt, Angina Pectoris und Schlaganfall gilt. Dieses Ergebnis verwundert kaum, da — durch die kürzlich Senkung der Grenzwerte für Cholesterin auf 200 Milligramm pro Deziliter inzwischen 80 Prozent aller BundesbürgerInnen über 20 Jahre einen erhöhten Cholesterinwert aufweisen. Das heißt: Vier von fünf Deutschen sind damit potentiell zu PatientInnen geworden. Durch den Gesundheits- Check-up bekommen sie jetzt schwarz auf weiß bestätigt, daß mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie werden ermahnt, sich am besten unter ständige ärztliche Kontrolle zu begeben, ihre Ernährung umzustellen und dafür mehr Sport zu treiben usw. Auch werden erhöhte Cholesterinwerte häufig medikamentös behandelt, die verschiedene Nebenwirkungen wie Muskelschwäche und Leberfunktionsstörungen erzeugen, die dann tatsächlich zum Risiko für die PatientInnen werden. Ohnehin ist umstritten, ob der Cholesterinspiegel wirklich so entscheidend für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, wie jahrzehntelang propagiert.

Was ist überhaupt Gesundheit? Abwesenheit von Krankheit, wie die Medizin es oft definiert, oder aber sich wohlzufühlen in der eigenen Haut. Mißt sie sich an statistischen Normwerten oder möglicherweise sogar an genetischen Dispositionen? Der Gesundheitsbegriff hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend verselbständigt. Er wurde vom Medizinsystem zu einer objektivierbaren Größe gemacht. Befunde werden weniger im Dialog mit dem Patienten erarbeitet, als vielmehr als Ergebnis von labortechnischen Messungen konstatiert. Dabei sind die angeblichen Risiken oft nichts weiter als Jonglierstücke mit statistischen Verdachtsmomenten, die ein Netz von Vorsorgeuntersuchungen rechtfertigen, die Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe treiben und die Chance für ein längeres Leben kaum vergrößern.

Einen Effekt haben sie zweifellos: Je perfekter das medizinische Überwachungssystem, um so hilfloser werden die PatientInnen. Es setzt den Einzelnen unter Druck, ängstigt ihn, medikalisiert möglicherweise sein Leben und macht ihn von medizinischen ExpertInnen abhängig. Das Wissen um mögliche Risiken ersetzt das Wissen um sich selbst. Es zwingt dazu, eigener Intuition und Körperlichkeit immer weniger zu trauen. So nimmt die Kompetenz im Umgang mit dem eigenen Körper immer ab. Selbst einfache Heilmittel, die unsere Großmütter bei Grippe oder Durchfall anwendeten, sind heute in Vergessenheit geraten. Dies verstrickt immer mehr in das Netz medizinischer Versorgung. Gleichzeitig schürt es Erwartungshaltungen, daß alles technisch Machbare auch gemacht wird und delegiert nicht zuletzt die Verantwortung für die eigene Gesundheit an medizinische ExpertInnen.

Auf die Spitze getrieben wird diese Tendenz von der Humangenetik. Ihr Ziel ist es, die Fahndung von Gesundheitsrisiken und möglichen Krankheiten am genetischen Strickmuster abzulesen. Glaubt man jüngsten Forschungsberichten, so sind HumangenetikerInnen jetzt auch multifaktoriellen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen — Artherosklerose auf die genetische Schliche gekommen.

Gentests sollen demnächst schon vor der Erkrankung und in vielen Fällen bereits vorgeburtlich solche genetischen Anfälligkeiten feststellen. Riskovermeidung bis in den Mutterleib hinein wird zur Devise der modernen Zeit. Die möglichen Risiken der Untersuchungsmethoden werden von schwangeren Frauen in Kauf genommen, um ein anderes Risiko, die Geburt des Kindes mit einer Chromosomenanomolie durch einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern. Jede definierte Norm produziert Abweichungen von der Norm. Gerade durch die humangenetische Forschung ist zu befürchten, daß die Begriffe von krank und gesund in den nächsten Jahren weiter ausgedehnt werden. Was als „normal“ und „lebenswert“ gilt, bestimmt dann das genetische Strickmuster und die Interpretation durch die HumangenetikerInnen.

Die Perfektionsvorstellungen der Medizin treffen sich mit den zunehmenden Absicherungs- und Kontrollbedürfnissen der ZeitgenossInnen. Gesundheit wird als machbar propagiert, gesundheitliche Risiken durch Umwelt und Arbeitsplatz individualisiert oder gar ignoriert. Das Leben soll möglichst nach Plan und ohne Störungen ablaufen. Inwieweit das gelingt, ist anzuzweifeln.Die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil Folgert: „Alle reden nur noch von Gesundheit, vom Leben redet überhaupt keiner mehr.“