Moskaus Preisreform kein Aprilscherz

■ Gestern war Stichtag für Einführung eines dreigliedrigen Preissystems/ Geschäfte leer wie immer

Wie jeden Tag lehnte Valentina Iwanowna auch gestern morgen wieder lässig an der Säule eines riesigen Universam-Supermarktes in einem Moskauer Vorort.

Valentina Iwanowna arbeitet dort als Verkäuferin. Bisher war Valentina die Hüterin über regalweise herumstehende Konserven, die auf ihr Verfallsdatum warteten. Nun sind sie leergefegt und Valentina ist die einzige Ladenhüterin. Die Ankündigung einer Preisreform, die bei Grundnahrungsmitteln allein schon bis zu 300 Prozent aufschlägt, hat in den letzten Tagen in Moskau zu Panikkäufen geführt — obwohl es eigentlich nichts zu kaufen gibt. Ein Paradoxon, das nur ein Sowjetmensch versteht. Die Moskauer Brotindustrie kennt die Reflexe ihrer Kunden und hatte in weiser Voraussicht schon das Anderthalbfache produziert. Valentina Iwanowna, die Hydra des Mangels, hat bisher vom sowjetischen Defizitsystem profitiert. Ihrem Job als Verkäuferin geht sie nur nach, weil sie es muß. Wegen der Sozial- und Rentenversicherung etwa. Für sie war es allein wichtig, direkten Zugang zu den Waren zu haben, die sie gegen Aufpreis an ihre Spezialkunden verhökert.

Die von Premier Pawlow verfügte Preisreform wird Valentina Iwanowna nicht in ihrer Schmarotzerexistenz treffen. Sie wird weiterhin ihre Geschäfte machen. Denn an der Warenknappheit kann die Preisreform nichts ändern. In den nächsten Tagen werden die Regale vielleicht etwas voller sein. Viele Unternehmen und Geschäfte hielten ihre Produkte zurück, um einen Extraprofit einzustreichen. Das Angebot hält aber nicht lange vor und alles wird so sein wie vorher. So war am Tag der Preisreform schon wieder Ruhe in Moskau eingekehrt. Wirklich schlimm sind die Tage vor den „Reformen“, wenn Jäger und Sammler auf der Pirsch nach Gelegenheiten sind. Die Spätfolgen der Reform, die das Preisniveau insgesamt um 60 Prozent anhebt, von denen aber 80 Prozent durch staatliche Zuwendungen aufgefangen werden sollen, wird sich erst zeigen, wenn die Vorräte zur Neige gehen.

Viele Läden waren zu Beginn der „Reform“ einfach zu. Sie machten „Inventur“, hatten ihren „Reinigungstag“ oder waren aus „technischen Gründen“ geschlossen. Alles beliebte Varianten auch des normalen sowjetischen Werktags. Nur häufte es sich gestern, weil viele Geschäfte die neuen Preislisten noch nicht erhalten hatten. Mit den Neuerungen kämpfen mußte auch die Moskauer Metro. Der Fahrpreis steigt von 5 auf jetzt 15 Kopeken. Dazu müssen die Automaten umgerüstet werden. Doch die Verkehrsbetriebe begannen damit erst am Vorabend des 2. April. Das wiederum verursachte Staus und Verspätungen. Nachdenklich stimmen müssen nicht nur die Maßnahmen der Pawlowadministration, die immer noch glaubt, mittels einer reinen Preispolitik dem Budgetdefizit tatsächlich Herr werden zu können, sondern auch die Wahl des Datums.

Noch ist der 1. April in der UdSSR ein gewöhnlicher Arbeitstag, kein freier Ostermontag. Aber wie überall auf der Welt begeht man auch hier diesen Tag mit Scherz, Witz, Satire und Ironie. Daher fand die Preisreform einen Tag später statt.