Tradition und alte Knochen

Mißtrauisch verfolgten Hunderte schwerbewaffneter israelischer Soldaten die arabischen Moslems, die am Karfreitag vormittag zum traditionellen Gebet zum Charam e-Scharif, dem Tempelberg, drängten. Die israelischen Behörden sprachen von etwa zehntausend, die sich am zweiten Freitag des Fastenmonats Ramadan vor der Al-Aska-Moschee und dem Felsendom versammelten. Das Gebet ging ohne Zwischenfälle zu Ende. Danach waren dann die Christen dran. Ihre Karfreitagsdemonstration fiel allerdings etwas läppisch aus. Am Todestag des Gottessohnes waren die Christen in der Altstadt Jerusalems nur eine kleine Minderheit. Wenige hundert Pilger beteiligten sich an den Prozessionen. Nur einige Mönche luden sich das Kreuz auf ihre schmalen Schultern und trugen das schwere Symbol des Leidens und der Erlösung über das holprige Pflaster zur Grabeskirche. Natürlich fehlte nicht jene kleine Gruppe christlicher Pilger aus den USA, die dem Kreuzweg in wallenden, weißen Gewändern folgten, geführt von einem bärtigen Christus à la Hollywood.

Damit hat die Angst vor Gewalt und Terror und die Erinnerung an den Golfkrieg dem Osterfest und dem Geschäft mit der Kreuzigung einen schweren Schlag versetzt. „Es war die niedrigste Pilgerzahl seit vielen Jahren“, klagte ein arabischer Geschäftsmann, in dessen Souvenirladen sich kaum ein Tourist verirrte. Er hofft auf eine Auferstehung des Rummels im nächsten Jahr.

Eine andere katholische Leiche steht kurz vor einer bedeutenden Auszeichnung. Am 27. Oktober soll der Kölner Priester, Pädagoge und Publizist Adolph Kolping (1813- 1865) seliggesprochen werden. In der letzten Woche wurde eine wichtige Vorschrift im kirchlichen Seligsprechungsverfahren erfüllt: Geistliche und Mediziner „rekognoszierten“ (besichtigten) in der Kölner Minoritenkirche die Grabstätte und den Leichnam Kolpings. Der Erzbistumsnotar stellte dabei anhand einer Liste fest, daß sich alle bei einer ersten Besichtigung 1960 aufgeführten sterblichen Überreste Kolpings — Knochen- und Schädelfragmente sowie Stola, Talar und Meßgewand — zwar im weit fortgeschrittenen Verwesungszustand, doch immer noch im Sarg befinden. Was noch übrig ist, kommt in einen modernen Zinksarg. Vorher werden aber noch ein paar Knochenstücke abgebrochen, „für die Reliquienverehrung“. Papst Johannes Paul II. bekommt bei der Seligsprechung in Rom auch einen Splitter. Was für ein schöner, romantischer Brauch. Karl Wegmann