„Das war die RAF — hab ich doch gleich gesagt!“

■ Den Oberkasseler Nachbarn war bekannt, daß Rohwedder keinen besonderen Wert auf Bewachung legte

Genau 12 Stunden nach der Tat lernen sich Moritz und Luna kennen. Sie zerren an ihren Leinen und beschnuppern sich. Beide, der weiße Terrier und die gerade neun Wochen alte Hündin waren nur wenige Minuten vor den drei tödlichen Schüssen direkt vor dem Rohwedder-Haus Gassi geführt worden. Beide hätten sie berühmt werden können, vielleicht sogar die Tat verhindern. Aber kein Wittern, kein Kläffen, als die Täter vor dem Anwesen des Treuhand-Chefs Rohwedder längst in Stellung gegangen sein müssen.

Isabelle (15), die Luna hinter sich herzieht, berichtet, kurz nach dem letzten Ausgang, in der Nacht gegen 23.30 Uhr, habe die Mutter was gehört. „Aber es klang gar nicht wie Schüsse im Fernsehen“, sagt die Schülerin. Sie findet es aufregend, so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. „Das ist doch lustig“, sagt sie, nebenan beim Thyssen-Chef Späthmann laufen immer zwei Sicherheitsbeamte herum, und der Nachbar werde erschossen. Isabelles Freundin ergänzt: „Jetzt kriegt man erst mit, wer hier alles so wohnt.“

Eine Erkenntnis, die offenbar für vielle in Oberkassel gilt. Moritz' Frauchen, die auch in unmittelbarer Nähe wohnt, erzählt, ihr Gatte habe gerade wegen der Wärme die Fenster aufgemacht, da hörten sie drei Schüsse. Dann aber sei die Angst größer gewesen als die Neugier. So sei sie zu Hause geblieben und habe halt gewartet, bis zehn Minuten später Notarztwagen und Polizei im Großaufgebot vorgefahren seien. Da erst habe ihr gedämmert, daß die Schüsse etwas mit den Prominenten der Nachbarschaft zu tun haben müssen. „Erst hab ich gedacht, die komischen Penner unter der Oberkasseler Brücke ein Stück weiter hätten sich geprügelt, geschlagen oder geschossen sogar. Da ist ja immer was los.“

Am Mittag nach der Tat ebbt die Welle der Neugierde schon wieder ab. Nur noch ein paar Dutzend Pressemenschen, Neugierige und Nachbarn lungern um die hermetisch abgesperrte Straßenzeile vor dem Tatort Kaiser-Friedrich- Ring 71 herum. Die Außenbeleuchtung brennt noch am ältlichen, unscheinbaren 30er-Jahre- Backsteinbau. Videokamera und Alarmanlage am Dachfirst konnten gegen die Schüsse von gegenüber ihre Aufgabe nicht erfüllen. Hinter den Platanen gegenüber geht es eine Böschung hinunter zu einem Schrebergartengelände vor den Rheinwiesen. Hier müssen die Täter sich versteckt haben, vielleicht 30 Meter von seinem Arbeitszimmer entfernt. Ein BKA-Beamter trägt mittags ein Stück Papier hoch, ein Journalist will RAF darauf gelesen haben. Eine Stunde später vermelden die Nachrichtensendungen den Fund: „Kommando Ulrich Wessel“ — eines der Opfer des Stockholmer Botschaftsüberfalls 1976.

Einige Nachbarn stehen schon seit Stunden vor der Absperrung. Bei solchen Gelegenheiten ist der Rheinländer in seinem Element: Erzählen, spekulieren, schwätzen, Legenden bilden, Vermutungen anstellen. Einer will mit einem merkwürdigen Honda mit Bullauge im Heckfenster fast zusammengestoßen sein, nur wenige Minuten nach der Tat. Ganz klar die RAF, wissen andere schon am Morgen: „Hab isch doch gleisch gesacht.“ Manche erzählen ihre spärlichen Beobachtungen der Nacht schon zum zehnten Mal, immer ausgeschmückter. Ein junger Mann berichtet wieder und wieder: „Ich dachte erst, hier wird ein Krimi gedreht, als ich die Schüsse hörte. Ich hab nur noch auf den Schimanski gewartet.“ Ein älterer Mann, der über Ostern bei seiner Lebenspartnerin im Nachbarhaus zu Besuch war, weiß nur von „komischen Geräuschen, und ich dachte erst, da haben vielleicht ein paar Besoffene gegen den Container getreten. An so was denkt man ja nicht.“ Ja, doch, den Rohwedder habe er oft gesehen bei seinen Besuchen in Oberkassel, beim spazierengehen, ganz locker sei der immer herumgelaufen durchs Viertel — es sei bekannt gewesen, daß der Rohwedder keinen Wert auf besondere Bewachung gelegt habe. Ein anderer sagt, er kenne Rohwedder vom Brötchenholen am Morgen. Zum Bäcker geht jetzt, am frühen Nachmittag, auch der übermüdete Osterbesucher von nebenan. „Wir waren ja die ganze Nacht als Zeugen im Präsidium. Jetzt wird erstmal gefrühstückt.“

Betroffenheit und Entsetzen sind am Nachmittag am Tatort nicht mehr auszumachen. Später darf die Pressemeute direkt vor das Haus, um aus nächster Nähe die drei Löcher abzulichten. Ein Fotograf schätzt die 62 Meter Schußentfernung ab, geht in den Schrebergarten herunter vorbei am Schild „Schutt abladen verboten. Der Deichgraf“ dahin, wo die Täter ihre Patronenhülsen zurückließen, und macht dort — sehr authentisch — den vierten Schuß. Bernd Müllender, Düsseldorf