Die Jungfräulichkeit ist bald dahin

Die Abgründe und Gegensätze ergeben ein obskures Bild/ In der 'Ostsse-Zeitung‘ kommen Stimmen zu Wort, die westdeutschen Politikern nach kurzer Zeit nichts mehr glauben können  ■ Von Klaus Arnold

„Düngemittelwerk Rostock, Arbeiterwohnheim, Platz der Freundschaft 1, Rostock 6 2500“ steht auf der Besucherkarte, die mir in dem fünfzehngeschossigen Hochhaus in einem Trabantenviertel der Stadt ausgehändigt wird. 34,10 DM kostet die Nacht in der siebenten Etage; mit Blick auf den Hauptbahnhof von Rostock und die dahinterliegende Innenstadt. An den eigentümlichen Braunkohlegeruch, der einen Schleier über die ganze Stadt legt, muß man sich erst gewöhnen. Die alten grauen Häuser der Altstadt — viele zerfallen und leerstehend — wirken anfangs kalt, aber für einen von farbiger Reklame überreizten Westdeutschen wie mich strahlt die eher graue Hansestadt an der Ostsee einen angenehmen Charme aus.

In Bahnhofsnähe haben sich Pommes frites-Buden aus Hamburg aufgebaut. Selbst wenn man wie ich Pommes frites und Currywurst nie als Delikatesse angesehen hat — für den hier angebotenen Fraß fehlen sämtliche Negativadjektive. Aber die Menschen aus der ehemaligen DDR konsumieren, und alles, was aus dem „westlichen Paradies“ kommt, bedeutet ihnen Qualität und Wohlstand.

Rostock, ich liebe dich! Du hast noch den Reiz des Unverbrauchten. Noch ist die Coca-Cola-Pommes-frites-Mc-Donald-Welle nicht über dich hinweggerauscht. Aber deine Jungfräulichkeit ist in arger Bedrängnis. Die ersten westdeutschen Banken und Brauereien haben einen Eingang gefunden und breiten bereits sich aus.

Die drei Schaffnerinnen im Zug der Deutschen Reichsbahn erinnern mich an alte Zeiten des Transitverkehrs. Im Gänsemarsch werden von ihnen die Abteile kontrolliert. Nichts scheint sich verändert zu haben, doch später fällt es mir auf: Die drei waren geschminkt!

„Halleluja — halleluja — halleluja FDJ!“, schallt es spät abends von der Straße. Zwei Sattelschlepper von Aldi beliefern die Rostocker Zentrale. Die Abgründe und Gegensätze ergeben ein obskures Bild. Und die innere Zerrissenheit der Menschen spiegelt sich in der Rostocker 'Ostsee-Zeitung‘ wider. Stimmen kommen zu Wort, denen man anmerkt, daß sie den westdeutschen Politikern, die für sie die Verantwortung übernommen haben, schon nach kurzer Zeit nichts mehr glauben können. Das Leitungswasser schmeckt ekelhaft nach Chlor.

„Darf ich Sie mal fragen, was Sie zu der politischen Entwicklung der Ex-DDR sagen?“, frage ich den Hausmeister, der die Steckdosen repariert. Er verdient 1.100 DM netto, hat sich vor 17 Jahren einen Trabi bestellt, den er vor zwei Jahren geliefert bekam, ist nie in der Partei gewesen, wie er sofort betont, nur in der Gewerkschaft, weil sie das ja mußten. Das, was ihn am meisten gestört habe in der DDR, war die Unmöglichkeit, das Land zu verlassen. Die soziale Absicherung aber sei so hervorragend gewesen, daß eine kinderreiche Familie gar nicht mehr zu arbeiten brauchte, weil das Kindergeld allein sie ernährte. Jetzt hat er 20.000 DM Erspartes und will mal bei der Dresdner Bank anklopfen, ob er einen Kredit bekommen könnte, um das Arbeiterwohnheim des Düngemittelwerkes in ein Hotel umzufunktonieren. Bislang wurden hier Mitarbeiter der Fabrik untergebracht, aber seit ein dänischer Konzern das Werk übernommen hat, sind die meisten Arbeiter arbeitslos. Die Arbeitslosenquote ist auf 25 Prozent in Rostock gestiegen.

In dem neuen Spar-Laden in der Altstadt schieben die Frauen, die hier am Mittag die überwiegende Kaufkraft darstellen, hilflos die Einkaufswagen durch die mit Westwaren vollgestopften Regale. Unbekannte Produkte, kein Ratgeber, nur die Kasse verhindert den Ausgang. In der Betonvorstadt Lütten Klein hat sich Divi mit einem riesigen Zeltgestell zwischen die Häuser gestellt und verspricht: „Mit uns kann man rechnen!“.

Ein Relikt der Vergangenheit klebt an einem Brückenpfeiler: Das Gesicht von Birne und in dicken Buchstaben dazu: „Nur mit uns ist die Einheit stark. CDU.“

„Man muß abwarten. Daß uns die gebratenen Tauben nicht in den Mund fliegen, können wir auch nicht erwarten“, räumt der Hausmeister ein. Die kleinen Münzen der alten DDR-Währung sind noch im Umlauf und werden überall akzeptiert. Ein bißchen Wehmut nach dem Arbeiter- und-Bauern-Staat, „in dem wir schließlich alle gelebt und ihn aufgebaut haben“, spielt da mit.

Die Subkulturszene, die in den alten Bundesländern überall prägend wirkt, ist hier offensichtlich nicht vorhanden. Freizeit war Sport, die FDJ oder Jugendgruppen der Partei. Wenn es in Rostock dunkel ist, dann ist es auch dunkel. Die meisten Lichter stehen am Bahnhof, Leuchtreklame ist noch äußerst rar gesät. Der nächtliche Lichtkegel, der über westdeutschen Städten liegt, ist hier nur ganz schwach zu erkennen.

RMV (Radio Mecklenburg-Vorpommern) bringt die Meldung, daß der Uralt-Musikprofi Tony Sheridan zusammen mit zwei Rostocker Musikern eine neue Formation gebildet hat. Der neue UKW-Sender bringt die Regionalnachrichten und orientiert sich in seiner Jugendmusiksendung am Abend nach westlichem Muster. „Mach mal ruhig dein Radio lauter...na komm, noch 'n bißchen...“, spricht der Moderator die Hörer persönlich an. Es existieren noch ungeahnte Möglichkeiten in diesem Brachland der Subkulturen, der Kredithaie und Geschäftemacher!

„Gute Fahrt!“ wünscht man mir für die Rückreise. Und genau wie die DDR-Warenhäuser Centrum privatisiert wurden, wird auch dieses Arbeiterwohnheim bald einen anderen Namen tragen. Und sicherlich nicht den des Hausmeisters!