Besserwessi-Artikel-betr.: "Von der konservativen Lüge zu den linken Luftschlössern" von Walter Jakobs, taz vom 26.3.91

betr.: „Von der konservativen Lüge zu den linken Luftschlössern“ von Walter Jakobs,

taz vom 26.3.91

Recht hat Walter Jakobs erst einmal damit, daß die dummen Ossis Kohl geglaubt und CDU gewählt haben, daß sie mit ihrem eigenen Kaufverhalten die eigenen Produkte vom Markt gefegt haben und daß sie daher nun keinen Grund haben, sich über den Kollaps „ihrer“ Wirtschaft zu beschweren. In erster Näherung ist das schon richtig. Aber wenn man genauer hinsieht, dann handelt es sich wieder einmal um einen der häufigen Besserwessi-Artikel, denen jede Substanz fehlt.

1.Daß die ex-DDR-Bevölkerung Kohl gewählt habe, „wohl wissend“, daß er seine Wahlversprechen nicht einhalten werde, ist eine Unterstellung. Im Kleinen wie im Großen müssen alle Ossis erst einmal das ganze Ausmaß des alltäglichen Betruges begreifen lernen, der sich in der nunmehrigen größeren Bundesrepulik mit dem gesprochenen Wort (mit und ohne Zeugen) verbindet. Woher hätten sie wissen müssen, daß Bundeskanzler Kohl nicht in der Lage sein würde, seine klar und eindeutig gegebenen Zusagen — wie von Jakobs zitiert — einzuhalten beziehungsweise daß er einfach nicht willens sein würde [...] sein Wort zu halten?

2.Der Handel in der ex-DDR hat nur teilweise, das erwartete Käuferverhalten vorwegnehmend, lediglich noch Westwaren bestellt. Durch die oligopolitischen Verträge mit westlichen Ladenketten kam er außerdem [...] sofort in Zugzwang, Ostwaren auf ein vorgegebenes prozentuales Angebotssegment zu begrenzen. [...] Es ist die verbreitete Illusion vom „souveränen Käufer“, daß der Handel anbietet, was der Kunde wünscht — während es doch tatsächlich (in Grenzen jedenfalls) darum geht, mithilfe einer gigantischen Werbung zu erreichen, daß der Kunde das zu kaufen wünscht, was der Handel anbietet. Wer dennoch Ostwaren zu kaufen wünschte, hat eben schlicht und einfach Pech gehabt!

3.Der „freie“ oder „Schwarzmarkt“-Kurs war vor dem Crashkurs der Regierung de Maizière etwa 5:1. Das ermöglichte Grenzgängern beziehungsweise „fiktiven Übersiedlern“ (mit tatsächlich beibehaltenem Wohnsitz im Osten) natürlich märchenhafte Einkommen. Woher hätte die DDR-Bevölkerung aber wissen müssen, daß der Trabant, dessen Preis mit VW-Viertaktmotor inzwischen etwa 16.000 Ostmark erreicht hatte, für 3.200 DM nicht anzubieten sein würde? Das heißt, den ökonomischen Wissensstand absolut zu überschätzen! Daß Löhne wie im Westen damit nicht zu vereinbaren sein würden, mag stimmen — aber wer hat diese „simple Wahrheit“ tatsächlich gewußt?

4.Die auch von alternativen Kräften mitgetragene Forderung nach einem Recht auf Arbeit als Verfassungsauftrag bleibt bei Jakobs aus gutem Grunde unerwähnt — wie sollte sich eine Massenarbeitlosigkeit von 30 Prozent damit vereinbaren lassen? Aber darum geht es im Grunde: Jeder der arbeiten will, soll dazu in der Lage sein. In einer gelenkten und sozial abgefederten Marktwirtschaft des nicht mehr „reinen Kapitalismus des 19.Jahrhunderts“ sollte das im Prinzip machbar sein. Damit ist der Staat nicht überfordert. [...]

5.Eine Beschäftigungsquote von 96 Prozent wird sich nicht halten lassen — dem ist zuzustimmen. Ein Teil der jungen Frauen arbeitete in der DDR vor allem den materiellen Bedürfnissen gehorchend und daher eher widerwillig „mit“, selbst wenn die Kinder in Krippe, Kindergarten und Hort verhältnismäßig gut untergebracht waren. Aber nun droht doch das Gegenteil: die massive Ausgrenzung derjenigen, insbesondere intellektuellen beziehungsweise allgemein höher qualifizierten jungen Frauen, die Arbeit als Teil ihrer persönlichen Entwicklung begreifen. Das soll es künftig vor allem für Männer geben — kein Wunder, daß der Autor des Beitrages ein Mann ist! Eine neue Runde des brutalen Geschlechterkampfes ist angesagt — in den Reihen der taz!

6.Dem Beitrag schaut der bei Wessis verbreitete Widerwille gegen „Milliardenprogramme auf ihre Kosten“ aus allen Knopflöchern. Das ist schon irgendwie berechtigt — niemand hat sie schließlich gefragt, ob sie fünfeinhalb neue Länder überhaupt in den Bund aufnehmen wollen, wenn das, sagen wir, insgesamt 600 Milliarden Mark (oder 10.000 DM pro Kopf der vormaligen Bevölkerung der Bundesrepublik) kosten könnten. Denn von dem Auftrag des Grundgesetzes, im wesentlichen einheitliche Lebensbedingungen für alle Bürger zu schaffen — und insbesondere keine Armutsregionen entstehen zu lassen —, kann man sich vielleicht für einige Jahre „abkoppeln“, aber nicht für immer. Doch es kommt ja immer darauf an, wohin die Milliarden gehen. [...]

Milliarden für neue Maschinen (vielfach kann man ja neueste Maschinen in relativ alter Bausubstanz unterbringen), Milliarden für die Infrastruktur, wenn sie eben nicht nur den Zugang für Westwaren verbessert, sondern auch die infragregionale beziehungsweise die Arbeitsteilung und Kooperation mit den Unternehmen jenseits der östlichen Grenzen verbessert, Milliarden für die Umschulung und Weiterbildung für die Arbeit am Standort [...] Milliarden schließlich für die international üblichen staatlichen Exportkredite und Exportkreditversicherungen — damit ließe sich durchaus eine noch höhere Beschäftigung erreichen. [...]

7.Und dazu wird es, bei allem Widerwillen, letztlich kommen müssen. Denn von den östlichen Ländern gingen, wenn es zu der von Jakobs prognostizierten 30prozentigen Arbeitslosigkeit kommt, politische Gefahren für die Stabilität des ganzen Landes BRD aus. Daß aus einer Radikalisierung im Osten gerade jetzt, wo die SED-Nachfolgepartei PDS in der Bevölkerung noch weitgehend isoliert ist, vor allem „neue rechte“ Kräfte Gewinn ziehen werden, scheint offensichtlich — dahin weisen schon die zunehmenden aggressiven Haltungen und Handlungen gegenüber der im Grunde geringfügigen ausländischen Minderheit in den östlichen Ländern. Von wem dann am Ende der jetzt oft vorgeschlagene Marsch auf Bonn getragen wird, wird man noch sehen. [...]

Die Polarisierung Wachstumsregionen — Armutsregionen ist im Kapitalismus als System „genetisch einkodiert“ und daher zunächst unvermeidlich. Ihr kann jedoch in der Gegenwart durch staatliche Programme und insbesondere eine durchdachte staatliche Regionalpolitik entgegengesteuert werden. Das heißt: Marktwirtschaft, wenn ihr soziale Zügel angelegt werden und Mittel für den regionalen Ausgleich gebildet und zweckmäßig eingesetzt werden, kann durchaus etwas an der heute oft beschworenen „Sizilianisierung“ Ostdeutschlands ändern. Der politische Wille dafür muß allerdings da sein. Ihn vermißt man aber gerade auch bei vielen Pseudo-Linken beziehungsweise Pseudo-Alternativen. Jakobs steht da nicht allein. Horst Wirth, (Ost)Berlin