Supermacht im Werden

■ Zehn Thesen zu den Perspektiven Europas

1. Die Entwicklung von einer konföderalen Europäischen Gemeinschaft zu einer föderalen Europäischen Union (EU) kann im Jahr 2000 beendet werden. Dies erfordert harte Arbeit. Aber der Zeitplan — eine Europäische Zentralbank 1994, eine gemeinsame Währung 1997 und ein Zusammenschluß der EG mit der Westeuropäischen Union 1998, wenn deren Verträge erneuert werden müssen — ist nicht unrealistisch.

2. Die Europäische Union wird sich nicht auf die wirtschaftliche und politische Integration begrenzen, sondern die militärische miteinschließen.

3. Eine Verteidigungsgemeinschaft muß nicht ihre gesamte militärische Macht teilen. Die deutsch-französische Brigade in Stuttgart macht zwar nur einen sehr kleinen Teil der gesamten deutschen und französischen Streitkräfte aus. Dennoch ist sie ein wichtiges Vorbild. Das gleiche könnte mit den Massenvernichtungswaffen geschehen: Einige bleiben in der Obhut der Mitgliedsstaaten, die anderen werden der Union unterstellt.

4. Eine Europäische Union mit militärischer Macht bedeutet nicht das Ende der Nato. Es sind viele Formeln für eine Koexistenz denkbar. Europäische Truppen können unter bestimmten Bedingungen der Nato unterstellt werden. Das Atlantische Bündnis kann auch als Allianz zweier Partner neugegründet werden: Nordamerika und Westeuropa.

5. Der Prozeß der militärischen Integration wird für Großbritannien schmerzhaft bleiben; er ist jedoch nicht unmöglich.

6. Es ist keine stabile Lösung, Mitglied der EG lediglich auf wirtschaftlicher und politischer, aber nicht auf militärischer Ebene zu sein. Diese Formel wird Österreich, Schweden und der Schweiz angeboten werden. Langfristig wird sie aber keinen Bestand haben.

7. Die Europäische Union schafft sich ihre eigenen Konflikte mit der Dritten Welt. Neun der zwölf Mitglieder sind die alten Kolonialmächte, die zusammen mehr als 80 Prozent der Welt eroberten. Heute gehören die meisten dieser Gebiete im Rahmen des AKP-Systems zum Außenmarkt der EG. In dem Maße wie die Krise des westlichen Entwicklungsmodells voranschreitet, werden die Konflikte mit und in der Dritten Welt zunehmen, besonders in Afrika, da Lateinamerika im Einflußbereich der USA ist. Bislang haben die Franzosen die meisten Interventionen unternommen; in Zukunft wird dies eine schnelle Eingreiftruppe unter gemeinsamem europäischen Kommando besorgen.

8. Die Europäische Union schafft sich ihre eigenen europäischen Konflikte. Im „Hinterhof“ der EG, der in der früheren DDR anfängt und sich über ganz Mittelosteuropa erstreckt, wachsen Konfliktherde. Vorschläge für eine Europäische Friedensstreitmacht gegen eine „Balkanisierung“ existieren schon. Dieses System mit seiner starken Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie wird enorme Konflikte verursachen, die das Zentrum bereits zu einem frühen Zeitpunkt dazu veranlassen könnten, eher seine militärische Macht einzusetzen, als die Struktur zu hinterfragen, die diese Konflikte hervorbringt.

9. Die Europäische Union wird ihresgleichen in anderen Regionen der Welt hervorbringen. Sie könnte zum Beispiel zu einer Neugeburt der Sowjetunion führen, wenn die osteuropäischen Länder Vollmitglieder oder assoziierte Mitglieder bei der EU werden. Rußland ist mehrfach von EU-Mitgliedern überfallen worden, nicht andersherum. Aber auch Ostasien wird ähnliche Schlüsse ziehen und sich zu einem gemeinsamen Markt mit Japan und China, aber auch mit einem vereinigten Korea und den sechs Asean-Staaten zusammenschließen. Dieser Prozeß wird wiederum eine ähnliche Entwicklung in Indien forcieren. Eingekeilt zwischen den Hindus, den Christen sowie den Juden werden auch die Araber/Moslems enger zusammenrücken. Vielleicht werden die fünf alten Reiche der Region — Syrien, Irak, Iran, Ägypten und die Türkei — demnächst beschließen, daß sie zusammen mehr erreichen denn als Schachfiguren im Teile-und-herrsche-Spiel des Westens. Der Golfkrieg war dafür ein Lehrbeispiel. Jede dieser Entwicklungen kann zu Reaktionen der USA führen, sogar zu Interventionen. Zusammengefaßt: Die Integration der Europäischen Gemeinschaft regt zu einer Entwicklung an, an deren Ende eine Welt von Supermächten steht, jede mit ihrer eigenen Einflußsphäre, wie es schon Orwell in seinem Buch 1984 beschrieben hat. Das Ergebnis: Superkriege, Kriege zwischen Supermächten. Und sollte es zu größeren Spannungen innerhalb der Europäischen Union kommen, zum Beispiel zwischen germanischen und romanischen Völkern, dann paßt auch ein Bürgerkrieg ins Repertoire.

10. Es deutet zwar alles auf eine europäische Supermacht hin, man kann diese Tendenz aber noch aufhalten. Denn dies ist keine Entwicklung, die die Welt oder Europa braucht. Wahrscheinlich sind auch die Europäischen Führer an einer solchen Perspektive nicht wirklich interessiert. Doch sie folgen alten Formeln wie der des Mönchs Pierre du Bois, einem bedeutenden Begründer der europäischen Idee. Er schrieb sein Von der Wiedereroberung des Heiligen Lands 1306. Damals waren sie von den Moslems besiegt worden. Ist ihr Appetit durch den „Sieg“ der US-Amerikaner nun erneut angeregt worden? Oder gibt es noch eine Chance, daß die EG in Zukunft etwas auf Weltebene praktiziert, was zwischen Frankreich und Deutschland so gut funktioniert hat: die Förderung des Friedens durch gleichberechtigte Zusammenarbeit statt durch den Bau der „Festung Europa“? Johan Galtung

Der Autor Johan Galtung ist norwegischer Friedensforscher.