Tapfere Krieger der Europäischen Gemeinschaft

Die am Golf erlittene Schlappe wollen die EG-Regierungschefs mit der Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik wettmachen/ Dazu soll auch die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie gestärkt werden  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Britische und US-amerikanische Raketen haben, obwohl in der fernen Golfregion abgeschossen, auch das Europäische Haus getroffen. Die Europhorie im EG-Flügel ist seitdem der nüchternen Erkenntnis gewichen: Ein gemeinsamer Binnenmarkt macht noch keine Weltmacht. Wie wenig die EG auf ihre neue Rolle vorbereitet war, zeigte ihre weitgehende Absenz in der Golfkrise und ihr völliges Schweigen im folgenden Krieg. Statt ihrer mischten die europäischen Einzelstaaten je nach eigenem Gutdünken am Golf mit, überließen aber in vertrauter Manier die Führung der US-Regierung. Diese Schlappe wollen die zwölf Staats- und Regierungschefs nun mit einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wettmachen. Auf einem extra einberufenen Krisengipfel sollen am Montag in Luxemburg Strukturen für eine gemeinsame Außenpolitik diskutiert werden, die über die bisherige Praxis der bloßen Koordination nationaler Außenpolitiken im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) hinausgehen.

Was darunter konkret zu verstehen ist, wissen zur Zeit nicht einmal die Experten — so viele unterschiedliche Vorschläge sind im Umlauf. Im Mittelpunkt des Interesses steht auf jeden Fall die Westeuropäische Union (WEU). Durch das Bombengewitter am Golf wurde die fast vergessene Organisation (siehe untenstehenden Kasten) quasi über Nacht zum Kristallisationspunkt europäischer Verteidigungsanstrengungen. Sie soll als „Brücke“ dienen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Nato. Der weitestgehende Vorschlag dazu stammt von dem italienischen Außenminister Gianni De Michelis. Er plädierte bereits Ende letzten Jahres für ein umfassendes sicherheits- und verteidigungspolitisches Mandat der EG ohne Einschränkung. Ähnliches streben auch die Außenminister der Bundesrepublik und Frankreichs an.

Als Zwischenlösung schlagen Genscher und Dumas vor, die WEU dem Europäischen Rat zu unterstellen. So nennen sich die zwölf Staats- und Regierungschefs bei ihren halbjährlichen Gipfeltreffen. Der britische Premierminister John Major möchte zwar der WEU eine eigenständige Funktion zukommen lassen als sogenannter europäischer Pfeiler der Nato. Dazu gehört nach seiner Ansicht auch eine unabhängige Europäische Militärmacht. Daß der Europäische Rat jedoch die künftige WEU-Politik bestimmt, dies wäre seiner Meinung nach der erste Schritt zur Entmachtung der Nato. So sieht es auch die niederländische Regierung. Sie fürchtet, die US-Amerikaner könnten ihr Interesse an der Verteidigung Europas verlieren.

„Nato or not to be“ — dies scheint wieder einmal die entscheidende Frage zu sein — auch für Nato-Generalsekretär Manfred Wörner, der bereits Untergangsstimmung verbreitet: „Instabilität und Unsicherheit sind die dominanten Merkmale der Welt von heute. Eine wichtige, falls nicht sogar die wichtigste Garantin für Stabilität ist die Nato. Es gibt nichts, absolut nichts, mit dem dieser politische Zusammenschluß von Nationen zu ersetzen wäre. Die Aufgabe besteht nun darin, der Allianz einen stärkeren europäischen Charakter zu geben.“

Innerhalb der Nato vertritt Wörner die moderate Position. Jenseits des Atlantiks sieht man bereits Gefahr im Verzug. Obwohl grundsätzlich gegenüber einer engeren europäischen Zusammenarbeit aufgeschlossen, fürchtet man im Weißen Haus die Entmachtung der Nato. Nicht zu unrecht. Schließlich propagiert WEU-Generalsekretär Willem van Eekelen eine wesentlich eigenständigere Rolle für seine Organisation. Denn wenn 1994 die sowjetischen Truppen in ihr eigenes Land zurückverlegt sind, „werden wir sicherheitspolitisch eine total andere Situation haben, eine Situation, in der Zentraleuropa weder an den Warschauer Pakt grenzt, weil dieser nicht mehr existiert, noch an den Machtbereich der Sowjetunion“. In gewisser Weise bedeutet dies, daß alle denkbaren militärischen Szenarien für die Nato „out of area“ wären. Deswegen schlägt der ehemalige niederländische Verteidigungsminister eine Arbeitsteilung vor: Die Nato soll weiterhin für die gemeinsame Verteidigung und Abschreckung gegenüber der Sowjetunion zuständig sein, während die WEU sich der anderen Szenarien annimmt. Darunter versteht er „Szenarien in Osteuropa, vor allem aber Golf-ähnliche Szenarien im Mittelmeerraum. Dort werden sich in Zukunft die Risiken und Instabilitäten häufen. Wenn die Russen nach Hause gegangen sind, kann ich mir vorstellen, daß sich die Nato bei Aktionen zurückhalten wird, weil dies andernfalls ein russisches Eingreifen provozieren könnte, was man möglichst verhindern möchte. Hier sehe ich eine mögliche Rolle für die WEU.“

Weil die WEU noch über keine eigenen Verbände verfügt, soll ein sogenanntes Doppelhutsystem eingeführt werden. Die in Europa stationierten Truppenverbände der Nato müßten dann auch Aufgaben der WEU übernehmen. Dazu sollen gemeinsame Brigaden geschaffen werden, sogenannte schnelle Eingreiftruppen, die sowohl im Auftrag der WEU als auch der Nato operieren. Die ersten Verbände könnten bereits in einem Jahr einsatzbereit sein.

Ob sich bis dahin auch die Politiker geeinigt haben? Die britische Regierung ist entschieden gegen Militäroperationen im Rahmen der EG. Die Bundesregierung muß noch eine Grundgesetzänderung durchsetzen, bevor sich Bundeswehrtruppen — sei es unter einem WEU- oder UN- Kommando — an solchen Operationen beteiligen könnten. Widerstände gegen van Eekelens Pläne kommen auch noch aus einer anderen Ecke: In der WEU sind nur neun der zwölf EG-Mitglieder untergekommen. Das neutrale Irland, Dänemark und Griechenland blieben außen vor. Sie sind zwar mit Ausnahme Irlands Mitglied der Nato, haben jedoch Schwierigkeiten damit, daß der Europäische Rat Entscheidungen trifft im Rahmen der WEU, in der sie nicht Mitglied sind. Ähnlich geht es Norwegen, Island und der Türkei, die zwar in der Nato, aber weder in der WEU noch in der EG Mitglied sind. Sie sollen einen besonderen Beobachterstatus bei der WEU erhalten.

Während den Regierungen Großbritanniens, der Niederlande und der USA die Pläne van Eekelens zu weit gehen, sind sie für den Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, bestenfalls Übergangslösungen. 1998 müssen die WEU-Verträge erneuert werden. Dies böte die Gelegenheit, so der Chef der EG-Behörde, das Sicherheits- und Verteidigungssystem in Europa auf eigene Füße zu stellen. Langfristig müsse die EG in der Lage sein, eigene Streitkräfte aufzustellen. Dazu möchte er den Artikel 5 der WEU- Verträge über gegenseitigen Beistand in das Abkommen zur Politischen Union der Gemeinschaft, an dem gegenwärtig gearbeitet wird, übernehmen. Für besonders wichtig hält er die künftige Beteiligung seiner Behörde an Rüstungskontrollmaßnahmen und Rüstungsexportkontrollen in Europa. Letztere sollen vor allem helfen, ethische Bedenken gegen eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen gegenüber der US-amerikanischen Rüstungsindustrie auszuräumen.

Schließlich wird die Umstellung der Nato-Streitkräfte auf die neuen Erfordernisse die Nachfrage nach modernen, bereits kriegsgetesteten Rüstungsgütern enorm anregen. Es muß auch — zumindest teilweise — Ersatz gefunden werden für die vormals in Europa stationierten US- Truppen. Zwei Drittel der über 300.000 Soldaten sind bereits golfkriegsbedingt abgezogen oder werden aus Spargründen in den nächsten Jahren in die USA zurückverlegt. Zudem gibt es Pläne in der Nato, den mittel- und osteuropäischen Staaten westliche Waffen zu verkaufen. Damit soll — so die offizielle Begründung — die Abhängigkeit dieser Länder von sowjetischer Rüstungstechnologie verringert werden.