Zeichenwuchs auf Problemfeldern

■ »Reflexions sur et d'une feuille de papier« - Rémy Zaugg bei Zwinger

Rémy Zaugg gehört zu den Malern, denen das Nachdenken über Bilder wichtiger ist als die Bilder selbst. Er mißtraut dem schönen Schein und ist gleichzeitig fasziniert von dessen Kraft, Latenz und Dynamik. Er will wissen, wie solch eine Wirkung zustande kommt und überprüft seine theoretischen Ausführungen (er hat mittlerweile fast zwanzig Bücher geschrieben) auf ihre Tauglichkeit im Visuellen. Entsprechend plant er Bildserien wie ein Zellenforscher Versuchsanordnungen, berücksichtigt den neuesten Forschungsstand und belichtet in immer neuen Anläufen seit zwanzig Jahren seinen zentralen Untersuchungsgegenstand: die Bildlichkeit des Bildes.

Seine theoretischen Ausführungen sind detail- und präzisionsbesessen, seine Seriegraphien karg bis zur äußersten Sprödigkeit; in Interviews gibt er sich redegewandt wie ein Feuer- und Flamme-Prediger: »Im Gegensatz zur wiedererkennenden Wahrnehmung, die automatisch, repetitiv, mechanisch, schnell und selbstsicher ist und beinahe gegen ihren Willen weiß, ist die künstlerische Wahrnehmung ihrerseits schöpferisch, befragend, langsam und unsicher, reflektierend, intuitionsträchtig und klarsehend. (...) Was mich also interessiert, ist das Werden des unmittelbar Sichtbaren.«

Aus dieser Problemstellung kann man sich mit der Behauptung: »Akademisch!« ausklinken und aus dem »Zwinger« in die bunte Pracht der Berlinischen Galerie fliehen. Grundsatzdiskussionen über das, was ein Bild ist, sind nicht jedermans Sache, aber privilegiertes Thema von passionierten Fundamentalisten, die nach dem ersten Rundblick im »Zwinger« erfreut erkennen, daß diese Bilder keine Fenster zu einer anderen Welt sondern Gegenstände sind: illusionsverweigerndes Material. Zauggs Siebdruckmalerei macht Grenzen der Bildbedingungen erkennbar, stellt die Transzendenz der Malerei in Frage und entwirft eine Sehschule für Fortgeschrittene, die nochmal von vorn beginnen.

Rémy Zaugg beginnt bei einem Blatt Papier. Ein Blatt Papier ist ein Blatt Papier. A ist A. Wenn aber das Blatt in einem Atelier liegt, ist es nicht nur ein Blatt Papier sondern unendliche Möglichkeit, Grundlage für ein bevorstehendes Bild, bereits unter bestimmten Bedinungen hergestelltes Material usf. A ist auch B. Und schon haben die Probleme begonnen. Denn Zaugg hat den radikalen Ehrgeiz, aus der aristotelischen Logik einen Sonderfall zu machen. Und da er jeden realen Arbeitsvorgang im Zusammenhang von ebenso möglichen Vorgehensweisen denkt, flottiert er logisch immer am Rande des Wahnsinns entlang.

Somit ist seine jeweilige Versuchsanordnung für eine Bildserie nicht nur ein objektiviertes Arbeitsfeld, sondern auch eine Strategie zur Selbsterhaltung. »Einmal habe ich mich gefragt, was sechs gleich große quadratische, zufällig auf meinem Tisch aufgestapelte Kartons bedeuten könnten«, erzählt er. Um alle Möglichkeiten durchzuspielen und um zu verstehen, welche Bedeutungsmöglichkeiten in dieser Anordnung liegen, waren schließlich 9000 vollgeschriebene Blätter nötig - und viel Zeit. »Nun gut, nach einer solchen Erfahrung werde ich den banalen Dingen wie einem Stück Karton gegenüber immer mißtrauischer«, kommentiert er trocken diesen Arbeitsexzess in punkto Grundlagenforschung.

Die nun ausgestellten Arbeiten im »Zwinger« sind eine Auswahl der 199 Blätter umfassenden Verlaufsanordnung, die Zaugg während eines DAAD—Stipendiums in der Bethanien-Druckerei mit Michael Schönke hergestellt hat. Die handwerkliche Genauigkeit Schönkes entspricht der konzeptuellen Klarsicht Zauggs und macht die Blätter erst zu dem, was sie geworden sind: Ein schönes Problemfeld, das aus dem Nachdenken über ein Blatt Papier entstand und durch das eigenwillig angewandte Siebdruckverfahren ins Auge sticht.

Nach dem Ausgangspunkt — einem hochformatigen Blatt Papier mit geriffeltem, fahl-ockrigem Andruck — hängt ein Blatt Papier, auf dem hundertfach »Blatt Papier« steht. Alles klar. A ist A. Nun hat Zaugg das Ganze mit einer Fleischfarbe und dickem Quast übermalt, die Präzisionsarbeit des Druckers weitgehend überdeckt; infomelle Stellen werden sichtbar, palimpsestartige Schichtung, Malgestus. Und das Blatt Papier ist kein Blatt Papier mehr, sondern ein komplexes Feld von Zeichen, dessen Tragweite ein Interpretationsteam beschäftigen und dessen Ergebnisse eine Revolution in Sachen Wahrnehmungsvermögen und Weltverhalten in Gang setzten könnten — auf dem Papier und als Ereignis im Kopf.

Denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten von Fundamentalisten, daß sie aus einer Mücke einen Elefanten machen, nicht ohne totalitäre Neigungen sind und aus den alltäglichsten Dingen — wie Papier, Rock, Tuch — das Allerzweifelhafteste machen. So entspringt aus der radikalen Malerei Zauggs, die zunächst recht harmlos erscheint, der Gedanke, die komplexen Beziehungen aus Entstehungsbedingungen und Zeichenhaftigkeit zu politisieren und als Auseinandersetzung konkurrierender Ideologien zu denken. Repräsentation, Bedeutungszuschreibungen, Wahrnehmung, Kommunikation definieren unser Verhalten zur Welt. »Die Moral«, schrieb anderswo Christel Dormagen, »sitzt im Blick, nicht im Erblickten«.

Und denkt einer über ein Blatt Papier nach, so kommt er wie Zaugg schnell »auf den Zusammenhang, daß die Dinge nicht vereinzelt sind, sondern an und in einem Ganzen teilhaben, das auch das fühlende und denkende Subjekt, das wir sind, einbeschließt«. Wer allerdings weiß, was ein Blatt ist, dem hat Zaugg nichts zu sagen noch zu zeigen. Peter Herbstreuth

Nur noch an diesem Wochenende in der Galerie Zwinger, Dresdner Straße 125, 1-36, Fr 15-19, Sa 11-14 Uhr