Spätlese: Joan Barfoot: Family News / Daniil Granin: Das Gemälde

Joan Barfoot: Family News. Aus dem Englischen von Eva und Thomas Pampuch. Antje Kunstmann Verlag, 357 S., DM 38,-

Es gibt durchaus nicht viele Romane, die vom Leben der Achtundsechziger heute berichten, ohne in ranzige Eitelkeiten zu verfallen oder einer Art von Läuterung Laut zu geben, die sich über ihren Adressaten unklar ist. Joan Barfoots Family News gehört zu diesen Ausnahmen. Sprachlich schnörkellos, vermittelt durch den bekannten, aber gerade in diesem Fall berechtigten Kunstgriff der Prspektiventeilung, wird eine einfache Geschichte von drei Personen erzählt: Vater, Mutter, Kind. Die einfache Geschichte ist eine der späten Familienzusammenführung und der erneuten Zellteilung: Während die Mutter, Susannah, mit ihrer Tochter Lizzie zur Beerdigung ihres Vaters fährt und damit einen vor vierzehn Jahren gerissenen Faden wiedr aufnimmt, gründet Lizzies Vater Ted selbst eine Familie — eine spontane, wenn nicht hektische Reakion auf eine Romanze, die erst ein paar Tage zählt. Susannah, die ihr Kind willentlich allein großzog, verfolgt mit Eigensinn, Konzentration und einem nicht unbeträchtlichen Anteil Trotz zwischen dieser sterbenden und der beginnenden neuen Familie das Leben weiter, das sie sich gezimmert hat — diese nur auf den ersten Blick labile Konstruktion aus Freiheit und Gegendruck, Ideologie und Erfahrung, Engagement und Privatheit, mit der die Linken zwischen 40 und 50 in Großbritannien, Holland, der BRD etc. über die Runden kommen.

Es ist in nicht unbeträchtlichem Maße die dauernde Verteidigungsbereitschaft, die sich in den inneren Monologen der beiden erwachsenen Protagonisten Ted und Susannah ausdrückt, die den Roman so realistisch und für sich einnehmend macht, denn sie beschreibt eine doppelte Wahrheit: der innere Monolog hat in den protestantischen Ländern der westlichen Welt meist eine psychologische Verteidigungsfunktion, ist direkte Reaktion auf das unaufhörlich tätige Über-Ich, das in der Gegenrede beschwichtigt werden muß. Und zweitens befinden sich die Linken dieser Generation, die einmal angetreten sind, das Private zum Politischen zu machen und vice versa, in einem fortwährenden Auseinandersetzungsprozeß mit der Gesellschaft, in der sie mit einem Bein stehen und aus der sie mit dem anderen flüchten — hin und wieder ungläubig feststellend, daß sich tatsächlich etwas geändert hat und ebenso häufig mit alten Gefühlen von Ohnmacht und Zorn kämpfend, die zu beweisen scheinen, daß die Welt damals, vor 20 Jahren, stehengeblieben ist, erstarrt in der Konfrontation des revolutionären Ich mit dem reaktionären Nicht-Ich.

Die Beschränkung auf den inneren Monolog einerseits, den klaren Plot andererseits, erlaubt es der Autorin, die ganze Strecke abzuschreiten, die zwischen der erhabenen Lächerlichkeit eines 45jährigen Friedensdemonstranten im Dauerengagement wie Ted liegt — und dem lakonischen, auch tapferen Versuch des täglichen Überlebens-und-sich- treu-Seins der 40jährigen Journalistin Susannah; dieselbe Strecke, die die spät erwachte, naiv-romantische Familiensehnsucht desselben Ted von der auf Unverletzbarkeit bedachten emotionalen Trockenheit Susannahs trennt — innere Konsequenzen auch der Strafen, mit denen emotionale Risiken von Frauen im Unterschied zu Männern seitens der Gesellschaft bedacht werden. Ein sehr realistischer, ein sehr genauer, unprätentiöser Roman, mit Leichtigkeit und Sicherheit geschrieben, in seinen Mitteln vollkommen und angemessen: very english indeed.

Daniil Granin: Das Gemälde. Aus dem Russischen von Lieselotte Remané. Diogenes Taschenbuch, 467 S., DM 16,80

Es gehört zu den angenehmsten Charakteristika eines guten Kriminalromans, in seiner Erzählung ökonomisch zu sein: Bei einem guten Krimi ist uns beim Lesen bewußt, daß keine Information, und sei sie noch so beiläufig formuliert, für die Erzählung überflüssig ist, daß die auftretenden Personen und geschilderten Handlungsabläufe sich notwendig aufeinander beziehen. Das Gesetz liegt hier in der Sparsamkeit, der Vermeidung von Zeit- und Energieverlust, zugleich aber auch in der glatten Verknüpfung von offensichtlich wesentlichen und nur scheinbar luxuriösen Bestandteilen der Story. Die Faszination des Lesens liegt in der Dechiffrierung der dargebotenen Wirklichkeit, in dem Bemühen, die Erzählung selbst mit Hilfe der eigenen logischen Anstrengung zu unterlaufen, um die Enthüllung möglichst vorwegzunehmen. Die Befriedigung des Lesens liegt wahrscheinlich darin, daß die Welt, so wie sie eingerichtet ist, eine vollständig rekonstruierbare ist. Hätte der logische Atomismus sich eine Literatur gewählt, wäre er dem Kriminalroman verfallen.

Daniil Granins Roman Das Gemälde ist angelegt wie ein Kriminalroman. Ausgehend von einem kleinen, banalen Zufall entrollt er eine Geschichte, in der sich Nebensächliches und Wichtiges, psychologisch motiviertes und instrumentelles Handeln, subjektive Entschlüsse und Verzögerungen und das gleichgültige Funktionieren der Bürokratie mit absoluter Notwendigkeit verknüpfen.

Der Bürgermeister Lossew aus der Provinz, in Amtsgeschäften in Moskau, betritt ein Museum, weil es draußen regnet. Er bleibt vor einem Gemälde stehen, das ihm seltsam bekannt vorkommt, rätselt an der impressionistischen Darstellung herum, bis ihm klar wird, daß es genau die Flußlandschaft darstellt, die er täglich aus dem Fenster seines Dienstzimmers sieht. Er besucht die Witwe des Malers, um das Bild für die Gemeinde zu erstehen — möglichst billig, versteht sich. Er wird konfrontiert mit der für den Kleinbürger absurden Preispolitik der Metropole, er redet und schmeichelt und bekommt das Bild schließlich geschenkt. Er reist stolz damit zurück, ein harmlloser Wohltäter der Heimat, und hat nichts weiter vor, als das Gemälde gut sichtbar aufzuhängen und sich für den Coup feiern zu lassen. Aber die Sache geht schief. Das Bild, ehemals unter Verschluß gebracht als bürgerlich-reaktionäre Darstellung — der Maler weigerte sich bespielsweise, eine Betonmischmaschine oder wenigstens einen Traktor in die Flußlandschaft zu setzen und so dem sozialistischen Aufbau seine Reverenz zu erweisen — zeigt ein Stück Natur, das einer Fabrik weichen soll. Da es im Städtchen kein Museum gibt, in dem das Gemälde unschädlich gemacht werden kann, wird es genau dort aufgehängt, wo noch sein Motiv zu besichtigen ist. Einnerungen und Wünsche werden wach, und schließlich fragt man sich auch laut, ob der Industriekomplex denn ausgerechnet da stehen muß, wo Kinder spielen und Linden ihre Wipfel neigen. Aber da gibt es Planungen, die von diversen Komitees längst abgesegnet sind, da gibt es Arbeitsplatzversprechen an die Gemeinde, und schließlich gibt es dieses dicht gewobene Netz der Bürokratie, in dem jeder von jedem abhängig ist und jede Bewegung unzählige weitere nach sich zieht. Kurz und gut: Es gibt dieses rätselhafte Gemisch von Zufällen und Gesetzen, das man Wirklichkeit nennen könnte, das sich Bürgermeiste Lossew aber darstellt als ein äußerst labiles, opakes Gebilde, in dem er eine einigermaßen hilflose und unglückliche Rolle spielt.

Das Gemälde ist 1980 in Moskau erschienen und ein Musterbespiel behutsamer Aufklärung. Die Geschichte, die erzählt wird, ist sanft — es kommt niemand gewaltsam zu Tode, es gibt keine offene Revolte, und es gibt keine bösen Überraschungen. Es sind im Gegenteil die kleinen Windungen der Handlung, die Bürgermeister Lossew und seine Mit- und Gegenspieler zum Stutzen bringen, zum Stirnrunzeln, zum Zögern. Die Nachkriegsjahre werden einer punktuellen Prüfung unterzogen, es tauchen Erinnerungen auf, die sich dem unaufhaltsamen Fortschritt der Geschichte nicht umstandslos einfügen wollen. Es werden Handlungen gedanklich riskiert und schließlich vollzogen, die beileibe keinen Umsturz verursachen sollen — aber doch hier und da das Getriebe hörbar zum Knirschen bringen. Es werden Stühle gewechselt und verrückt, aber mit dem Mobiliar ist man insgesamt doch noch zufrieden — zumal sich niemand ein besseres vorstellen kann. Es ist der Umbau der Gesellschaft mit all seinen Tücken, das Basteln am Floß, auf dem man sitzt, das Granin beschreibt — und das unaufhörliche, geduldige und immer erzwungene Durcharbeiten immer neuer Widerspürche. „Denke Dir ja nicht“, schrieb Schlegel an seinen Bruder über Schleiermacher, „daß seine Paradoxie so mit der Thüre ins Haus fällt ... Es ist ihm überall ein gewisser leiser Gang eigen ...“ Ein Buch in diesem leisen Gang, sehr einzigartig und wunderbar. Elke Schmitters