INTERVIEW
: Darf der Verfassungsschutz an Stasi-Akten ? ?

■ Verfassungsschützer Lochte über RAF und Stasi

taz: Herr Lochte, Sie haben wie Ihr hessischer Amtskollege Günther Scheicher den RAF-Anschlag auf den Treuhandchef Rohwedder zum Anlaß genommen, Ihrer Forderung nach einem Zugriff auf die Stasi- Akten noch einmal Nachdruck zu verleihen. Wollen Sie den Einigungsvertrag an den Punkten korrigieren, wo der Volkskammerbeschluß der DDR übernommen wurde, der den Zugriff aller Geheimdienste auf die Stasi-Unterlagen ausschließt?

Lochte: Überhaupt nicht. Aber als Verfassungsschutz haben wir ein sachliches Interesse an den Stasi-Akten, weil wir im Sicherheitsbereich im Vorfeld strafbarer Handlungen zuständig sind. Uns obliegt die Beobachtung des Terrorismus, und auch im Bereich der Spionageabwehr haben wir eine ureigene Zuständigkeit. Deshalb haben die Leiter der Länder- und des Bundesamtes einstimmig beschlossen, daß die Verfassungsschutzbehörden die Möglichkeit erhalten müssen, die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit soweit zu nutzen, wie es zur Erfüllung ihrer Aufgaben unerläßlich ist. Einer Nutzung der übrigen Akten — insbesondere der „Opferakten“ — bedarf es dabei nicht. Das Mißverständnis ist: Wir sind an den Millionen von Akten, die die Stasi zur Bespitzelung der eigenen Bürger angelegt hat, nicht interessiert. Uns geht es um die amtsinternen Akten der Stasi, soweit sie Spionage betrieben und soweit sie Verbindungen zu allen relevanten Terrorgruppen unterhalten hat. Eine intensive Zusammenarbeit hat es beispielsweise mit allen nahöstlichen Terrorgruppen, von Abu-Nidal bis zu Carlos gegeben. Darüber hinaus wissen wir heute: Es gab über Jahre hinweg nicht nur eine richtige Waffenbrüderschaft mit dem Untergrundkommando der RAF, sondern auch mit den „Legalen“. Wir wollen an diese Akten, weil sie uns Hinweise auf aktuelle Gefährdungen geben können.

Heißt das, die Behörde des Stasi- Sonderbeauftragten soll den Verfassungsschutzämtern diese Unterlagen übergeben?

Wir fordern nicht, daß diese Akten in unseren Besitz gelangen. Wir wollen lediglich ein Einsichts- und Auskunftsrecht bei der Gauck-Behörde. Die Einzelheiten können gesetzlich genau geregelt werden. Unsere Vorstellung ist, man geht zu dieser Behörde, setzt sich dort in ein Dienstzimmer und dann werden einem einzelne Aktenteile vorgelegt. Das kann alles unter der Kontrolle der Behörde des Sonderbeauftragten laufen. Das ist auch etwas ganz anderes als das, was mit dem Einigungsvertrag ausgeschlossen werden sollte. In der alten DDR gab es unter denen, die die Revolution herbeigeführt haben, die Vorstellung, Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz hätten nichts anderes im Sinn, als jetzt an die Akten über die DDR-Bürger heranzukommen. Das läßt sich gesetzlich leicht ausschließen. Nüchtern gesehen haben wir aber das Problem, daß die teuflische Waffenbrüderschaft zwischen RAF und Stasi in eine richtige Gesinnungskumpanei ausgeartet ist, das heißt, das sich die Beteiligten persönlich kannten. Ich kann nicht nachvollziehen, warum diese Waffenbrüderschaft 1984 aufgehört haben soll. Mein großer Verdacht ist, daß es sich hier um Schutzbehauptungen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter handelt, die unter die Verjährungsfrist für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung fallen wollen. Die RAF besteht auch nicht nur aus dem Kommando. Dazu gehören etwa 250 politische Unterstützer, von denen einige auch logistische Aufgaben für das Kommando übernehmen. Auch mit einzelnen dieses „legalen Arms“ hat sich die Stasi konspirativ getroffen. Das heißt, die Kontinuität der Zusammenarbeit war auch über sie gewährleistet. Und wenn ich mir vorstelle, daß die Stasi unter den „Legalen“ jemanden angeworben haben könnte, dann stellt sich beinahe schon die Frage nach einer Steuerung der RAF durch die Stasi. Das muß geklärt werden, und das geht nur, wenn ich das Recht habe, die entsprechenden Akten zu studieren. Zum Zeitpunkt, als der Einigungsvertrag verabschiedet wurde, war diese Waffenbrüderschaft zwischen RAF und Stasi schließlich nicht bekannt.

Terrorismusabwehr und Spionageverfolgung sind doch eigentlich die Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden...

...Aber doch nicht ausschließlich. Hier ist auch der Verfassungsschutz ureigentlich zuständig. Terroristische Gruppen haben einen politisch- extremistischen Hintergrund. Er ist eingebettet in den Bereich des gesamten Extremismus. Auch die RAF hat sich immer als ein Teil einer breit angelegten linksrevolutionären Bewegung begriffen und Kontakte zu anderen Gruppen unterhalten. Es ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes, diese Kontakte zu beobachten. Wenn Sie das nur polizeilich sehen, können sie diese Gruppen im Grunde genommen gar nicht richtig beobachten.

Der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl hat aber vor wenigen Tagen gesagt, der Hinweis auf eine möglicherweise noch bestehende Zusammenarbeit zwischen RAF und Stasi sei „wenig hilfreich“.

Das ist leicht zu erklären. Der Generalbundesanwalt hat die Aussagen der verhafteten ehemaligen Stasi- Mitarbeiter, etwa die von General Neiber. Alle haben ausgesagt, die Zusammenarbeit hätte nur bis 1984 angedauert. Als höchster Staatsanwalt in der Bundesrepublik kann der Generalbundesanwalt öffentlich nur das erklären, was er auch vor Gericht anklagen kann. Er muß sich daher sehr zurückhaltend äußern. Uns geht es im Gegesatz dazu um die Beschreibungen von möglichen Sicherheitsgefährdungen. Dazu gehört, daß es unter den Stasi-Leuten viele gibt, die sich nicht mit der Wiedervereinigung abgefunden haben. Die träumen immer noch davon, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Es wäre blauäugig, wenn ich die Möglichkeit von Verbindungen zwischen RAF und ehemaligen Mitarbeitern der Stasi ausschließen würde.

Der Bundesanwalt stützt sich bei seiner Aussage aber auf das, was Sie einklagen: Auf die Stasi-Unterlagen. Wie der Direktor der Gauck- Behörde, Hans-Jörg Geiger, erklärte, sind der Bundesanwaltschaft bereits im letzten Sommer umfangreiche Stasi-Unterlagen zum Terrorismusbereich übergeben worden.

Die Polizei oder die Bundesanwaltschaft kann mit bestimmten Hinweisen in diesen Akten gar nichts anfangen. Wir haben das RAF-Umfeld über viele Jahre sehr intensiv beobachtet und können deshalb mit bestimmten Angaben in den Akten viel mehr anfangen. Ein Staatsanwalt sucht in den Akten in erster Linie nach Beweisen — wir schauen auf die politischen Zusammenhänge, wer dazu gehört und wer nicht.

Im Zusammenhang mit der Spionageabwehr haben Sie die Zahl von 450 Personen genannt, die im Auftrag der Staatssicherheit in führenden Postionen in der Bundesrepublik gearbeitet haben und dort noch verharren sollen.

Hohe Offiziere der Spionagezentrale „Hauptverwaltung Aufklärung“ haben berichtet, daß es noch etwa 450 Bürger der alten Bundesrepublik gibt, die wir als Spione noch nicht entdeckt haben. Es soll sich um Personen handeln, die in hohen oder wichtigen Positionen in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik und der Medien sitzen. Die Stasi-Offiziere wollen deren Namen mit der Begründung nicht nennen, weil sie sich damit selbst beschuldigen und sich ein Strafverfahren einhandeln könnten. Deshalb waren wir auch für eine begrenzte Amnestie im Spionagebereich, nur für die Spionageparagraphen. Dann könnten wir den einzelnen Stasi-Mitarbeiter als Zeugen vernehmen, ihn sogar zu Aussagen zwingen. Gäbe es diese Amnestie, könnten sie sich nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen. In der Güterabwägung, was wichtiger ist — auf der eine Seite die Bestrafung der Führungsoffiziere und auf der anderen Seite die Aufdeckung dieser Agenten — entscheide ich mich für das letztere. Hinzu kommt noch, daß spätestens in ein oder zwei Jahren die sowjetischen Geheimdienste KGB und GRU auf diese Personen zugehen und sagen werden, früher hast du für die Stasi gearbeitet, jetzt arbeitest du für uns. Einer solchen Erpressung wären sie völlig preisgegeben. Interview: Wolfgang Gast

Christian Lochte ist Chef des Hamburger Verfassungsschutzes