EINE BEÄNGSTIGENDE KARRIERE

■ Die Entwicklung der Freizeitkultur im schönen Land Tirol: Eine Buchbesprechung

Die Entwicklung der Freizeitkultur

im schönen Land Tirol:

Eine Buchbesprechung

VONWERNERTRAPP

Ein Farbfoto mit fröhlich winkenden Menschen, die unbeschwert in einer kurvenreichen Kunststoffrinne zu Tal gleiten — „Sommerrodeln in der Leutasch“, so verrät die Bildlegende, entnommen dem Bildband von Michael Forcher: Zu Gast im Herzen der Alpen · Eine Bildgeschichte des Tourismus in Tirol. Doch von der Leutasch ist auf diesem Foto ebensowenig zu sehen wie von der Tiroler Landschaft, für die auf diese Weise geworben werden soll. Das ist auch nicht unbedingt nötig: Für das touristische Erlebnis der Gegenwart spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, vor welcher landschaftlichen Kulisse das „Abfahrtsvergnügen“ stattfindet. Und Sommerrodelbahnen gibt es mittlerweile überall. Ihretwegen bräuchten wir nicht nach Tirol zu fahren. Selbst dort, wo Berg und Hügel als natürliche Gegebenheiten der Landschaft fehlen, ist ihre Konstruktion — etwa durch Aufschüttung von Gelände — möglich. Sommerrodelbahnen machen uns zudem unabhängig von Klima und Jahreszeit: Rodeln, über Jahrzehnte fest mit den Bildern von Winter und Schnee verbunden, wird wie alle anderen Sportarten zur Ganzjahresaktivität.

Touristisches Erleben scheint an Landschaft, Klima und Jahreszeit, an Natur, nicht mehr gebunden zu sein. Die Logik dieser Entwicklung offenbart sich gerade dort, wo Natur sich bisweilen noch störend bemerkbar macht: Dem schneelosen Winter in den Bergen rücken wir mit der Schneekanone, der algenübersäten Adria mit dem „Erlebnis- Schwimmbad“ zu Leibe.

Dieses Grundgefühl von Austauschbarkeit angesichts einer Freizeitwelt, die allen alles überall zu bieten verspricht, stellt sich auch beim Studium des Bildbandes von Michael Forcher ein: Je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto flüchtiger wird die Lektüre von Text und Bildern, gleicht das in Zusammenarbeit mit der „Tirol-Werbung“ herausgegebene Buch einem Prospekt, der anpreist, was wir aus anderen Regionen schon kennen.

Zugegeben: Die Zahlen und Daten, die Forcher zur Nachkriegsentwicklung dieses österreichischen Bundeslandes ausbreitet, addieren sich zu einer eindrucksvollen und — je nach Standort des Betrachters — auch beängstigenden Karriere. Noch zu Anfang der fünfziger Jahre zählte man in den 25.000 Fremdenbetten von Tirol 100.000 Übernachtungen, Ende der achtziger Jahre waren es 25 Millionen, die sich auf 150.000 Betten verteilten. Dieser Boom war das Ergebnis planvoller „Erschließung“, vor allem durch den Straßen- und Seilbahnbau, mit dem man die Wintersaison zu einem dem alpinen Sommer ebenbürtigen Faktor hochgerüstet hat. 1951 zum Beispiel waren erst 21 Prozent der Tiroler Landesstraßen asphaltiert, 1963 bereits stolze 90 Prozent. Berge und Höhen wurden im Schweinsgalopp erschlossen: Verfügte man 1956 gerade über 20 Seilbahnen bzw. Sessellifte sowie über 102 Schlepplifte, so können heute allein in Tirol 1.200 Lifte und Seilbahnen 350.000 Menschen pro Stunde zu den „Ausgangspunkten der Abfahrtspisten“ befördern — das reicht, um sämtliche Österreicher einmal pro Tag auf die Gipfel Tirols zu verfrachten.

Auch Tirols Tourismusmanager haben die „Zeichen der Zeit“ erkannt und bieten „vor allem dem jungen Publikum neue Freizeitangebote in modischen Trends“: Monoski, Snowboard, Swingbo oder Eisklettern über zugefrorene Wassserfälle im Winter, Drachenfliegen und Para-Gliding, Wildwasserpaddeln und Riverrafting sowie Free-Climbing im Sommer. Und wem das noch nicht genügt, der darf im Ötztal „mit seinem Mountain-Bike sogar einen Dreitausender bezwingen“.

In dieser schönen neuen Welt des Tiroler Tourismus bleibt für Zweifel und Kritik wenig Raum. Auch wenn am Ende des Buches „kritische Stimmen“ zu Wort kommen, welche „Identitäts- und Kulturverlust einerseits, die Umweltzerstörung andererseits“ mit als Folge des Tourismus begreifen — gezeigt werden diese Folgen nicht. Statt dessen tröstet man sich mit dem Bekenntnis, „daß bei uns trotz mancher Sünden die Welt noch relativ in Ordnung ist“, und setzt für die Zukunft auf einen „intelligenten Tourismus“, dessen „Tirol-Bild wieder mehr von Kultur, Geist und Seele geprägt wird“.

Bei dieser Suche kann der Blick zurück durchaus nützliche Einsichten vermitteln. Forchers voluminöser Bildband, der in vielem auf Adolf Lässers faktenreicher Studie 100 Jahre Fremdenverkehr in Tirol aufbaut, wendet sich an ein breites und internationales Publikum. Der gleich in vier Sprachen abgedruckte Text verschlingt natürlich Platz, so daß die Ausführungen notwendigerweise oft plakativ bleiben. Die häufig faszinierenden Bilddokumente aus der Früh- und Gründerzeit des Tourismus aber machen diesen Mangel teilweise wieder wett. Bis in die zwanziger und dreißiger Jahre hinein steht der Mensch im Mittelpunkt touristischer Fotografie, der Mensch als Entdecker und Eroberer, der Mensch als Pionier, der die Grenzen der technisch-industriellen Zivilisation wie die Grenzen der entstehenden touristischen Kultur Stück um Stück in bis dahin noch entlegene Alpenregionen verrückt. Dargestellt werden die Pioniere der Hotellerie, des Bergbahn- oder Alpenstraßenbaus, die frühen Bergführer und die Gründer von Verkehrsvereinen (oftmals in einer Person), mit deren Namen sich die touristische Entwicklung ganzer Talschaften und Regionen verbindet. Aber auch die frühen Reisenden, die ersten Alpinisten und die Anfänge des Wintersports sind Thema bildlicher und fotografischer Präsentation. Kurz nach der Jahrhundertwende etwa wird in St. Anton am Arlberg der erste Skiklub Tirols gegründet, 1904 finden dort die ersten Skirennen statt. Man mag die primitive Ausrüstung und die völlig unzweckmäßige Bekleidung, besonders der skifahrenden Damen, vielleicht belächeln, der Vergleich mit der Gegenwart gibt eher zu denken. Die Fotografien der Jahrhundertwende zeigen Menschen, Typen mit individuellen Zügen und Profilen. Wer dagegen die Rennläufer der Gegenwart betrachtet, gewinnt den Eindruck, daß hier in erster Linie eine technische Ausrüstung zu Tal fährt. Der Mensch dahinter ist bis zur Unkenntlichkeit vermummt — nur die Bildunterschrift verdeutlicht, daß es Franz Klammer ist, der da die Hänge vom Patscherkofel hinunterjagt.

Ähnlich bemerkenswerte Kontraste bieten die Kapitel über die Erschließung der Tiroler Alpen durch den modernen Verkehr. Der Reiz der neuen Verkehrsmittel, dazu das Abenteuer, mit den noch keineswegs vollkommenen Gefährten auf kaum befestigten Paßstraßen und Pisten in entlegene Höhen vorzustoßen, hat auch die zeitgenössischen Fotografen fasziniert. Sei es nun der Fortschritt vom Pferdeomnibus eines Hotels in Imst zum ersten motorisierten Hoteltaxi in Zirl, der Übergang von der Pferdekutsche zum frühen Omnibus im Passeiertal, das Aufkommen der ersten Postautos in Landeck und Kufstein oder eine Fahrt mit dem offenen Automobil über den verschneiten Zirler Berg um 1905 — stets zeigen die Aufnahmen Menschen und Verkehrsmittel aus der Nähe, posieren Reisende, Chauffeure und Passanten als Träger einer neuen touristischen Kultur, die im Begriff ist, Tal um Tal, Berg um Berg zu erobern.

Ganz anders die Aufnahmen der Gegenwart im Kapitel „Erfüllte Straßenträume“: Im Mittelpunkt stehen nun die technischen Leistungen des Straßen-, Brücken- oder Tunnelbaus an sich, die Timmelsjoch- und die Silvrettastraße, das Hahntennjoch, die Felbertauernstraße oder die Europa-Brücke. Die, die sie erbaut haben oder die dort fahren, sind unwichtig geworden. Die Höhen eines Berges mit dem Automobil zu erklimmen, das zeigen diese Bilder, hat beträchtlich an Reiz verloren. Der Berg erscheint eher als Hindernis, das es möglichst rasch zu durchqueren gilt. Der 5,2 Kilometer lange Felbertauerntunnel, 1967 fertiggestellt, liefert dafür ein Beispiel. Eine Aufnahme des beleuchteten Tunnels zeigt nur noch eine Kolonne von Automobilen, nicht mehr die Menschen, die dort auf der Reise sind. Die kilometerlange Fahrt unter dem Alpenhauptkamm gehört heute ebenso zu den Selbstverständlichkeiten wie das per Computer reservierte Hotelzimmer auf der anderen Seite, und selbst die Panne im Tunnel ist noch im Schutzbrief mitversichert. So käme auch kein Fotograf auf die Idee, Reisende gerade dort anzuhalten, um sie bei ihrer Fahrt durch den Berg im Bild festzuhalten. Ganz davon abgesehen, daß Anhalten im Tunnel ohnehin lebensgefährlich und daher zu Recht verboten ist.

Michael Forcher: Zu Gast im Herzen der Alpen · Eine Bildgeschichte des Tourismus in Tirol, Innsbruck 1989,

Adolf Lässer: 100 Jahre Fremdenverkehr in Tirol · Die Geschichte einer Organisation, Innsbruck 1989,