SCHWINDENDE WILDNIS

■ Kanadas Holzbarone vernichten durch rücksichtslosen Jahlschlag in der Pazifikprovinz British-Kolumbien eines der letzten intakten Ökosysteme der Welt

Kanadas Holzbarone vernichten durch rücksichtslosen Kahlschlag in der Pazifikprovinz Britisch-Kolumbien eines der letzten intakten Ökosysteme der Welt

VONGUNDASCHWANTJE

„Besucht die Naturwunder unserer herrlichen Provinz“, lockt das großformatige, mit üppigen Wäldern und silbergrünen Seen ausgestattete Poster an der Bretterwand des kümmerlichen Geräteschuppens, den Joe und Stephen als Kantine nutzen. Es ist zwar noch Sommer, aber die beiden Männer haben den kleinen Bollerofen angeschmissen, um ihre vom Nieselregen durchnäßte Arbeitskleidung zu trocknen. „Ich freue mich auf die Stadt“, sagt Joe, „wir sind hier absolut in the middle of nowhere.“ Die „Stadt“, die Joe meint, das ist die Ansammlung von tristen Holzhäusern, ungefähr 50 Meilen südlich vom Bushcamp der beiden Forstarbeiter. Einmal wöchentlich fahren die beiden nach Terrace — für ein ordentliches Bad und ein paar Drinks. „Wenn du eine Weile in diesem Nichts zugebracht hast, bist du froh, wieder in einer Kneipe zu sitzen.“

Dieses Nichts — von dem das Ministerium für Tourismus der Provinz Britisch-Kolumbien in ihren Hochglanzbroschüren behauptet, es sei ein letztes Refugium für erholungsuchende, gestreßte Stadtneurotiker und Synonym für Raum, Reinheit und Ruhe, für kaum besiedelte Weiten in einer intakten Umwelt —, das ist der ehemalige unberührte Regenwald an Kanadas Pazifikküste. Seit Anfang Juni sind die beiden Mittdreißiger aus der Provinz Saskatchewan damit beschäftigt, in mühsamer Handarbeit das zu korrigieren, was die multinationalen Holzkonzerne Kanadas unter maschinellem Großeinsatz anrichten: Sie forsten den entsorgten Regenwald Britisch-Kolumbiens neu auf. „Einen Wald“, meint Joe, „wie du ihn auf diesem Hochglanzposter siehst, den gibt es hier schon längst nicht mehr. Über weite Flächen wurzelt hier draußen kein einziger Baum mehr, nicht mal ein Strauch, nichts — alles kahlrasiert. Oft liegt der Boden jahrelang brach, bevor wir mit unseren Setzlingen anrücken.“

Harvest, Ernte — so heißt im Jargon der professionellen Holzwilderer das ruinöse Treiben in den Wäldern Kanadas; als waste, Verschwendung, bezeichnen den Kahlschlag die Umweltschützer. Und das nicht zu Unrecht, denn das clearcut logging, der Kahlschlag, ist schlichtweg eine ökologische Katastrophe: einst intakte Ökosysteme wurden und werden durch diesen Raubbau in kahle, verödete Steppen verwandelt. Die vom Regen gelöste Muttererde wird ungeschützt in die Täler gespühlt. Holzabfälle und losgewaschene Erde verschlammen das Wasser der Flüsse und vernichten die Laichgründe der Lachse. Gewaltige Lawinen reißen ganze Berghänge mit sich in die Tiefe.

Die programmierte ökologische Katastrophe

Ein einzelner Holzfäller legt pro Tag an die 50 Riesen um, jährlich fallen in Kanada 250 Millionen Kubikmeter Wald der Holzindustrie zum Opfer; der größte zusammenhängende Landstrich, der nur noch von jämmerlichen Stümpfen bedeckt ist, entspricht etwa der zweifachen Größe des Saarlandes. In Britisch-Kolumbien sind inzwischen Hunderttausende Hektar kahlgeschlagen — was der einst baumreichen Provinz das wenig schmeichelhafte Prädikat „Brasilien des Nordens“ eingebracht hat. Einwänden seitens der Aktivisten der kanadischen Umweltbewegung wurde bis dato stets mit dem Arbeitsplatzargument begegnet; immerhin hängt jeder dritte Arbeitsplatz der 2,3 Millionen Kanadier Britisch-Kolumbiens vom dem Industriezweig Nummer eins ab, 1990 stieg der Umsatz der hiesigen Holzbarone um 3,6 auf insgesamt 12,5 Milliarden Dollar an.

Einige hundert Meilen südwestlich des Nichts, in dem sich die beiden Forstarbeiter Joe und Stephen wähnen, in der Nähe von Cape Scott auf Vancouver Island, hört man schon von weitem die Motorsägen heulen. Sekunden später geht wieder einer jener Regenwaldgiganten ächzend zu Boden und reißt in seinem Fall etliche Bäume mit, knickt Kronen und Äste ab, Holz splittert. Fünfzig Menschengenerationen haben einige dieser Urwaldriesen überdauert; jetzt werden sie in wenigen Minuten mit der Kettensäge niedergemacht. Mit schweren Schritten kommt ein Holzfäller den Hang hinunter und wischt sich die schmierigen Finger an einem Lappen ab. Mittagspause. Paul packt Brote und Kaffee aus und lädt mich ein.

Ein vollbeladener Sattelschlepper windet sich den holprigen Kiesweg hinunter, rast laut hupend vorbei und hüllt uns für einen Augenblick in eine stinkende Abgaswolke. „Die Kerle fahren wirklich wie die Teufel“, bemerkt Paul anerkennend. Nachdenklich zieht er das unvermeidliche Baseballkäppi tiefer ins verwitterte Gesicht. „Manchmal frage ich mich schon“, sinniert er, „wohin uns das hier eigentlich führen soll.“ Sein Blick schweift über die kahlen Hänge, wo die Holzfäller bereits ganze Arbeit geleistet haben. So weit das Auge reicht, bedecken Stümpfe, ausgerissene Wurzeln, zurückgelassene — „wertlose“ — Stämme den Boden. Nur vereinzelt stehen da noch kleinere Bäume, wie Mahnmale wirken sie. „Auch wenn du ganz Vancouver Island abfliegst, es ist überall das gleiche Bild“, sagt Paul.

Dabei konnten sich Kanadas Regenwälder, vom Menschen unbehelligt, nach der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren frei entwickeln. Seit etwa hundert Jahren sind die mächtigen Douglas-Tannen, die Hemlocks, die roten und gelben Zedern Objekte der Begierde. Und die Natur wird mit derselben Achtlosigkeit behandelt wie schon in den Tagen der Pionierzeit. „Von den abgeholzten Wäldern nehmen wir nur die dicken Stämme, das Holz, das sich zur Weiterverarbeitung besonders gut eignet“, erklärt Paul. „Der Rest ist nach unseren Maßstäben wertlos, bleibt liegen, vergammelt, wird mit Kerosin übergossen und abgefackelt.“ Unter die Kategorie „wertlos“ fallen oftmals immerhin unbescheidene 50 Prozent des kahlgeschlagenen Waldes. „Die Holzindustrie behauptet, selektives Abholzen, wie es in anderen Ländern praktiziert wird, verursache zu hohe Kosten, sei somit unrentabel. Deshalb arbeiten wir hier immer noch nach dem Verfahren, das den geringsten Aufwand macht.“

Vier multinationale Holzkonzerne teilen sich in Britisch-Kolumbien den Kuchen. Die nicht erneuerbare Ressource „Wildnis“ schwindet in raschem Tempo; nirgendwo sonst wird so hemmungslos geplündert wie auf Vancouver Island. Und das aus gutem Grund: Dort wachsen die größten und ältesten Bäume der Welt. Der höchste Baum Kanadas, eine circa 100 Meter hohe Sitka- Tanne, thront über dem Carmanah Valley an der Südwestküste der Insel. Im Tal ist die Heimat einer roten Zeder, die im Durchmesser etwa sieben Meter mißt und schätzungsweise 2.000 Jahre alt ist.

„Schlagen und weiterziehen“ — auf diese Devise konnten sich die kanadische Regierung und die Holzindustrie jahrzehntelang einigen. Und so konnten Kanadas Holzenterpreneure, von lästigen staatlichen Auflagen unbehelligt, hemmungslos herumplündern.

Vom Staat unbehelligte Plünderung

Entlang der Strecke von Port Hardy nach Nanaimo säumen immer wieder Schonungen den Straßenrand, die Setzlinge haben es bereits auf beachtliche zwei bis drei Meter gebracht. Schilder informieren den Reisenden über den Stand der Wiederaufforstung. Die Behörden sind besorgt und engagieren sich für die Wiederbelebung der verlorengegangenen Wildnis. Verschwiegen wird dabei wohlweislich, daß der Boden durch den Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und Kerosin für Jungplanzen ohnehin so gut wie verdorben ist. Anne, die in Nanaimo eine kleine Pension betreibt, ist verärgert über die billige Besänftigungsstrategie: „Sieh dir das genau an“, sagt sie bitter, „diese Winzlinge sollen nun der Ersatz sein für unsere schönen alten Riesen.“ Industriewald nennt Anne diese Zucht abfällig. „Es ist eine Anmaßung, vorzugeben, man sei in der Lage, ein Ökosystem, das sich Jahrtausende lang ungestört entwickeln konnte, durch diese lächerliche Nachzucht zu ersetzen.“

Der kanadische Regenwald gilt heute als Wald von globaler Bedeutung. Das reiche Ökosystem ist einmalig in der Welt, ein Verlust genauso tragisch wie das vielbeklagte Schwinden der tropischen Regenwälder Brasiliens. Paradoxerweise ist es auch der Empörung über die Plünderung der Tropenwälder und nachfolgendem Boykott dieses Importgutes in Europa geschuldet, daß in Kanada das Geschäft mit dem Holz blüht wie nie zuvor, der Kahlschlag sogar beschleunigt wurde. Sollte in diesem Tempo weitergewirtschaftet werden, werden in 12 bis 15 Jahren die Wälder Kanadas leergewildert sein, mahnen Kritiker.

Kahlschlag und Touristenboom

Zögerlich wird seit einigen Jahren öffentlich über die Belastbarkeit des heimischen Ökosystems und über Alternativen nachgedacht angesichts der Perspektivlosigkeit einer Provinz, deren materielles Wohlergehen sich ausschließlich auf der hemmungslosen Ausbeutung nichterneuerbarer Ressourcen gründet. Die kanadische Wirtschaft investiert zunehmend in ein anderes Standbein: in die zukunftsträchtige Einkommensquelle „Tourismus“. Ironischerweise gräbt sie sich aber unverdrossen die Basis dafür selbst ab: die vielgepriesenen „natural wonders of our beautiful BC“, die unberührte Natur. Womit will diese Provinz, deren einziges (touristisches) Kapital aus seiner vermeintlich unberührten Natur besteht, potentielle Kunden locken, wenn es sich herumspricht, daß die Restreservate ursprünglicher Wildnis vielfach daran zu erkennen sind, daß das Plündern der Wälder erst an den Grenzen der Nationalparks aufhört?

„Guten Morgen! So früh schon an der Straße?“ Thomas strahlt über das ganze Gesicht und wuchtet meinen Rucksack auf die geräumige Ladefläche seines Pick-up-Trucks. Er kommt gerade vom Festland, aus Vancouver. „Zwei Tage haben mir gereicht“, gesteht er schmunzelnd, „einfach zu viele Menschen dort. Diese Städter existieren am Rande der Panik.“ Dort, wo die meisten seiner Kunden leben, könnte Tom keine Woche bestehen, wie er selbst vergnügt gesteht. Tom lebt in einer kleinen Reservation, unmittelbar an der Long Beach, der bekanntesten Bucht im Pacific Rim National Park. Die Westküste Britisch-Kolumbiens wird auch von Touristen gerne aufgesucht: Sie kommen wegen der wilderness oder dessen, was sie dafür halten mögen.

In diesen Sommer hat Tom nicht schlecht an dieser Sehnsucht verdient: whale watching und salmon fishing, für ihn selbstverständliche Vergnügungen seit seiner Kindheit, sind die Attraktionen, die er seiner Klientel aus den Metropolen Kanadas, Europas und der USA zu bieten hat. In der kurzen Sommersaison fährt er mit seinem Charterboot Angler und kamerabestückte Walvernarrte in den Gewässern des Tofino Inlet herum und führt den Weißen die Reste dessen vor, was Vancouver Island einmal ausgemacht hat. „Aus unserem natürlichen Ressourcenreichtum schnelles Geld zu machen, dieses Vermögen hat die weiße Zivilisation zweifellos mitgebracht. Von dem Zauber der Wildnis jedoch ist eure Kultur schon so lange abgetrennt, daß ihr kaum mehr ahnt, was hier endgültig verlorengeht. Für euch ist Wildnis ein Synonym für Unberechenbarkeit, Profit, bestenfalls Abenteuer, aber nicht für Harmonie, für Lebensraum. Und wie du selbst sehen konntest, wird dieser Lebensraum beständig enger.“

Die verlorene Unschuld der Wildnis

Tom setzt mich kurz vor seinem Dorf ab. Er hatte mir geraten, den Resturwald des Nationalparks zu Fuß zu erkunden. Nur ein von „Parks Canada“ sorgfältig angelegter Pfad erlaubt es, relativ unbeschwert durch das Dickicht des Regenwaldes an den Pazifischen Ozean zu gelangen. Wie alt mögen diese Bäume wohl sein, die sich hier so majestätisch gen Himmel recken? Vierhundert, fünfhundert Jahre? Gigantische Urwaldriesen. Nur ab und an dringt ein Sonnenstrahl bis auf den bemoosten Boden durch in diesem grünen, undurchdringlichen Dschungel aus Farnen, Gebüsch und Stämmen unterschiedlichster Art und Größe. Alles trieft vor Feuchtigkeit.

Nach einstündiger Wanderung öffnet sich plötzlich der Regenwald. Über eine schmale Brücke hinweg, die einen reißenden, glasklaren Fluß überspannt, erreiche ich schließlich das offene Meer. Kein Mensch sonst befindet sich an diesem Sandstrand, bestaunt werde ich nur von einem Weißkopfadler-Pärchen, das aus sicherer Entfernung aufmerksam meine Ankunft beäugt. Am Rande der steilen Uferböschung schlage ich das Zelt auf. Die Sonne hat schon keine Kraft mehr an diesem Herbstabend — ich sammle angeschwemmtes Treibholz, wärme mich am Feuer.