An der Ostsee geht der Aufschwung baden

An der Ostsee beginnt die Saison, doch an den ostdeutschen Stränden will kein rechter Hoffnungsschimmer aufkommen. Begeistert vom nostalgischen Charme der Bäderstädte zückt so mancher Westtourist die Kamera, um ehemalige Nobelhotels oder dem Verfall preisgegebene Ferienvillen zu fotografieren, für die Einwohner jedoch ist die Lage schwieriger denn je. Die ehemaligen Ferienobjekte des FDGB sind geschlossen, die Angestellten entlassen. Die Privatisierungspolitik der Berliner Treuhand verhinderte bislag, daß auch an der Ostsee der Tourismus einen Aufschwung nehmen kann.  ■ Von Vera Gaserow

Wenn die Dämmerung den abgeblätterten Putz verdeckt und die erblindeten Fensterscheiben kaschiert, sieht Ahlbeck dann nicht haargenau aus wie auf dem längst vergilbten Ferienprospekt aus den 30er Jahren? Und wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, erkennt man da nicht die kaiserliche Familie beim Bad in der Ostsee, in geziemendem Abstand von den Damen und Herren in den geringelten Badetrikots, die züchtig vom Halsansatz bis zum Knie reichen mußten? Blinzelt da aus dem Strandkorb nicht ein gewisser Herr Tucholsky in die Sonne? Und die Dame da hinten, die auf der verglasten Veranda ihren Nachmittagstee nimmt, kennt man die nicht aus diesen Filmen, in denen die Münder sich bewegen, aber kein Laut zu hören ist? Oh ja, diesen Hauch von Nostalgie, den lieben die Touristen mit den westdeutschen Nummernschildern an den Autos, die sich nun jedes Wochenende Stoßstange an Stoßstangen die mecklenburgische Ostseeküste entlang schieben — bis hier her nach Ahlbeck, dem nordöstlichsten unter den alten Seebädern, ganz in Sichtweite der polnischen Grenze. Daß hier „alles noch so wie früher ist“, nur eben 50 Jahre älter und verfallener, das macht den morbiden Charme und die eigentümliche Melancholie der ostdeutschen Seebäder aus. Das läßt die aufgeregten Besucher die Kameras zücken vor den alten Villen an der Strandpromenade, deren verwitterte Namenszüge „Haus Vaterland“ oder „Villa Vineta“ 40 Jahre DDR-Sozialismus überlebt haben.

Erna Maschke* möchte dies alles „am liebsten in die Luft jagen! Wenn der Hund nicht wäre“, weist Frau Maschke auf eine schwarze Promenadenmischung, hätte sie das schon längst getan „und mir hinterher einen Strick genommen.“ Erna Maschke ist nicht zu Besuch in Ahlbeck. Sie lebt hier seit 40 Jahren. 20 davon hat sie als Küchenhilfe gearbeitet beim Hauptarbeitgeber der Insel, dem Feriendienst des FDGB „Fedi“. Gemüsegeputzt und Teller gewaschen hat sie in einem der gewerkschaftseigenen Urlauberheime an der Ostsee. In einer dieser Unterkünfte einmal einen Ferienplatz zu bekommen, davon träumten viele DDR-Bürger jahrelang und häufig vergeblich. Nun sind seit anfang des Jahres diese Heime geschlossen, der FDGB-Feriendienst — jetzt ohne millionenschwere staatliche Finanspritzen — wurde von der Treuhand in die Pleite geschickt und Erna Maschke auf die Straße gesetzt. Seit Dezember hat der Feriendienst nicht nur seinen Betrieb endgültig eingestellt, sondern auch die Zahlungen an seine 15.000 Beschäftigten, die quer durch die alte deutsche demokratische Republik bei ihm arbeiteten. Seit fast vier Monaten hat Erna Maschke keinen Pfennig gekriegt. Jetzt hat ihr das Arbeitsamt 294 Mark überbrückungsgeld gezahlt, und da muß sie schon wieder mit dem Taschentuch an ihren Augen, herumtupfen, weil „der Honecker, der hat uns belogen und betrogen, aber Arbeit hatten wir wenigstens! Ich finde doch hier nichts Neues. Was denken die denn, sollen wir verhungern?“

Wenn Erna Maschke alleine wäre, Helmut Koschinsky, der Bürgermeister von Ahlbeck, könnte ihr vielleicht noch helfen. Aber in Ahlbeck gibt es allein 20 dieser FDGB- Heime und dazu noch etliche betriebseigene „Ferienobjekte.“ Und an allen hängt das Schild „geschlossen.“ Draußen auf der Straße suchen genervte Osterbesucher nach einem Quartier, bekommen selbst in unangemessen teuren Pensionen kein Zimmer mehr, und währenddessen stehen die meisten Hotels und Ferienheime leer — das Personal „freigesetzt“, der Betrieb, „bis auf weiteres eingestellt.“ Rund 5.000 Urlauber beherbergte das einst königlich preußische, später sozialistisch werktätige Seebad Ahlbeck noch im letzten Sommer. Die meisten kamen in den Heimen des FDGBeigenen Feriendienstes unter, denn der hatte sich in den 50ger Jahren den größten Batzen der alten Pensionen und bürgerlichen Prachthotels eingeheimst. Zu den Urlaubern kamen 600.000 Tagesgäste hinzu, die so manche Mark an den ewig überfüllten Grilletabuden, Broilerständen und Eiscafés ließen. Halb Ahlbeck hat von diesen Urlaubern gelebt und mit der Schließung der gewerkschaftseigenen und betrieblichen Heime ist nun halb Ahlbeck arbeitslos. Kein Haushalt in dem 5.000 Einwohnerort, in dem nicht mindestens ein Familienmitglied arbeitslos ist. Auf rund 50 Prozent schätzt der Bürgermeister die Arbeitslosenquote, und wenn es in letzter Minute nicht doch noch gelingt, die geschlossenen Objekte wieder für Touristen zu öffnen, dann wird die Zahl noch weiter steigen.

Dabei hat Ahlbeck beihnahe noch Glück gehabt. Andere Badeorte wie das einstige „Kampen der Ostsee“, das Seebad Binz, verzeichneten Arbeitslosenziffern bis zu 70 Prozent. Überall an der mecklenburgischen Küste dasselbe Bild: aus den alten, früher so prächtigen Seebädern sind innerhalb weniger Monate Orte geworden, die stärker von Arbeitslosigkeit geprägt sind, als viele Industrieregionen. In Binz, dem größten Seebad auf der Insel Rügen, kam neben der Pleite des FDGB-Feriendienstes noch das Aus für einen großen Standort der Nationalen Volksarmee (NVA) hinzu. In Zinnowitz auf Usedom sind es die Entlassungen bei der nahegelegen Peene-Werft, die die Lage noch verschärfen. Im benachbarten Heringsdorf sind es zahlreiche Fischer, die ihre Arbeit aufgeben mußten, weil es sich finanziell nicht mehr lohnt. „Von der Wiedervereinigung“, klagt die Fischfrau am Usedomer Ostseestrand, „haben wir hier noch nicht Gutes gesehen. Nicht sooo ein Stück!“ Früher haben die Männer, die frühmorgens mit ihren Booten rausfuhren, rund 70 Mark für den Zentner Hering gekriegt. Die Hälfte davon blieb nach Abzug aller Unkosten als Reinerlös. Jetzt bringt derselbe Zentner Fisch nur noch 20 DM, rund sechs bleiben als Netto-Verdienst. Davon kann die Fischfrau „man gerade die Krankenversicherung zahlen“. Und wenn nicht doch noch die Urlauber kommen, „dann haben sie uns wirklich kleingekriegt“. Urlauber werden kommen — die Frage ist nur, wie viele und wie lange sie bleiben.

Insgesamt 700 Urlauberheime des FDGB-Feriendienstes hat die Berliner Treuhand mit der Währungsunion übernommen. Die meisten von ihnen stehen am Reiseziel Nummer 1 der DDR, der Ostsee. Hinzukommen kommen noch zahllose betriebliche Ferienunterkünfte die so anheimelnde Namen wie „Haus des Stahlarbeiters“ oder „Ferienobjekt des Walzwerks Finow“ tragen. Auch diese Betriebsunterkünfte sind überwiegend geschlossen — teils weil die Betriebe pleite sind, teils weil man bisher vergeblich nach Käufern und Pächtern sucht. Von den 700 FDGB- Heimen hat die Treuhand bisher kein einziges „privatisieren“, sprich: verkaufen können. „Weil sie mögliche Interessenten verprellt, sie auf die lange Bank geschoben hat, mit ihnen umgesprungen ist, wie es sich kein Investor gefallen läßt!“ schimpfen einhellig die Bürgermeister der Ostseebäder. „Weil die Eigentumsverhältnisse ungeklärt waren und die FDGB-Heime mit ihrem Massenbetrieb und ihrer maroden Bausubstanz für westliche Investoren nicht attraktiv sind!“ behauptet die Treuhand. Unübersehbarer Fakt bleibt jedenfalls, daß Monate lang nichts passiert ist — auch dann nicht, als die Saison immer näher rückte. Tatsache ist auch, daß die „Treuhänder“ im fernen Berlin sich wohl nicht klarmachten, daß sich ein Sommer nicht einfach verschieben läßt: Der Ausfall einer Urlaubsaison bedeutet Ausfall des Lebensunterhaltes einer gesamten Region für das gesamte Jahr.

Die Ahlbecker und die Bewohner der anderen Ostseebäder wissen seit Monaten, daß ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Sie sind auf die Straße gegangen, haben vor den verschlossenen Ferienheimen Protestversammlungen abgehalten und schwarze Fahnen gehißt vor den leerstehenden Bettenburgen und verriegelten alten Hotels. Ihre Bürgermeister sind auf die Barrikaden gegangen, haben die Politiker mit eindringlichen Briefen und Hilferufen bombadiert und sind der Treuhand, „dieser Treuhand!“, immer wieder „auf die Bude gerückt“. Nach langem Drängen willigte die Treuhand schließlich ein, zumindest einige Heime für eine Übergangsfrist zur Pacht freizuge

ben — eher widerwillig gesteht Treuhand-Direktor Josef Dierdorf ein, „denn wir suchten keine Pächter sondern Käufer“. Dennoch konnte bisher nur ein Bruchteil der Urlauber- Unterkünfte über neue Pächter wieder geöffnet werden. In Ahlbeck noch kein einziges. Ahlbecks Bürgermeister hatte schon in Richtung Berliner Treuhandzentrale gedroht: „Unser revolutionäres Blut vom Herbst '89, das steckt uns immer noch in den Adern!“ Mit seinen 66 Jahren hätte sich der pensionierte Lehrer irgendwann nicht mehr um Recht und Gesetz geschert. Er hätte den „Ahlbecker Hof“, ein altes Prachthotel direkt an der Strandpromenade, einfach aufgeschlossen und es den Beschäftigten des ehemaligen FDGB-Feriendienstes übergeben. Die wollten das Hotel nämlich in Eigeninitiative übernehmen, finanziert als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Aber sie waren bei der Treuhand immer wieder abgeblitzt. „Wir hätten den ,Ahlbecker Hof‘ aufgemacht. Die Treuhand hätten wir einfach nicht mehr gefragt“, versichert Bürgermeister Koschinsky entschlossen, denn er weiß, daß eine solche Initiative dringend nötig wäre, um ein Fünkchen Hoffnung zu setzen in diese lähmende Depression, die über seiner Gemeinde liegt.

Jetzt müssen die Kommunen ran

Doch nun hat die Treuhand plötzlich den Gemeinden einen Teilerfolg beschert, von dem man noch nicht hundertprozentig weiß, ob er nicht auch zum Pyrrhussieg wird: Ende März hat die Treuhand auf Order aus Bonn beschlossen, die gesamten Einrichtungen des FDGB-Feriendienstes den Kommunen „zur Verwaltung und Verwertung“ zu überlassen. „Eine sicher auch politische Entscheidung“, wie man bei der Treuhand eingesteht. Gerade an diesem Morgen hat Ahlbecks Bürgermeister die Entscheidung auf den Schreibtisch gekriegt. Monatelang hatten er und seine anderen Amtskollegen sie eingefordert. Jetzt kommt die Entscheidung, wo die Urlauber schon vor verschlossenen Türen stehen und die Hochsaison in vier Wochen beginnt, und sie kommt rücksichtslos zu spät. Wie soll man Pächter finden innerhalb von vier Wochen? Wie die potenten Käufer, die später dann auch in die Objekte investieren, damit dringend nötige Umbauten und Renovierungen vorgenommen werden? Wie sollen die Gemeinden mit kaum arbeitsfähigen Verwaltungen innerhalb weniger Tage das schaffen, was die Treuhand monatelang nicht zustande brachte? „Bis das entschieden ist, ist die Saison vorbei“, schimpft Gisela Lemke, Bürgermeisterin von Binz, „die Treuhand hat uns kurz vor Toreschluß den Schwarzen Peter rübergeschoben.“ „Nun wird sich zeigen, wie die Gemeinden mit den Schwierigkeiten zurechtkommen, mit denen wir zu kämpfen hatten,“ meint der zuständige Treuhand-Direktor mit dem Gestus eines schadenfrohen Prügelknaben und wünscht den Kommunen „Viel Glück!“. Glück werden die Gemeinden brauchen und zunächst auch einiges Geld. Denn die Treuhand hat ihnen nicht nur die Rechte über die Urlauberheime übergeben, sondern auch alle Pflichten. Die Kommunen tragen jetzt die Verantwortung für den baulichen Zustand und sämtliche Kosten für Bewirtschaftung, unbezahlte Hypotheken sowie für Rückerstattung- oder Entschädigungsansprüche früherer Eigentümer — und die gibt es reichlich. An der Binzer Strandpromenade kann man wahllos mit dem Finger auf eine der schönen alten Villen zeigen, für beinahe jedes der Häuser gibt es Rückgabeforderungen von enteigneten Vorbesitzern oder Erben.

Dennoch sind die Ostsee-Kommunen erleichtert über die Entscheidung der Treuhand. Zumindest einen Teil dieser Saison hoffen sie jetzt über kurzfristige Verpachtungen noch zu retten. Und seit klar ist, daß ab sofort die Gemeinden für den Verkauf der einstigen „Ferienobjekte“ zuständig sind, läuft, so die Binzer Bürgermeisterin, „bei uns das Telefon heiß.“ Doch die Filetstücke unter den Hotels haben sich längst finanzkräftige westdeutsche und ausländische Investoren zur Pacht und zum späteren Kauf gesichert: die weitläufige Parkanlage mit dem Nobelhotel der Stasi an der Ahlbecker Promenade hat ein Schweizer Geschäftsmann fest im Griff. Den Zuschlag für das renommierte Ostsee-Hotel mit Meeresblick hat die Hotelkette „Routier“ gekriegt. Das Restaurant „Seebrücke“, das legendäre Wahrzeichen von Ahlbeck, soll ein Mister Dooly aus Boston zur Pacht bekommen. Auf das repräsentative Kurhaus in Binz, haben die Erben des alten Eigentümers den Finger gelegt und die neuerbauten Binzer FDGB- Heime, die annähernd westlichem Hotel-Standard entsprechen, sind an einen Reiseveranstalter aus Femahrn vergeben. Aber wer will schon die anderen „Objekte“ haben, die klotzigen Scheußlichkeiten sozialistischer Plattenbau-Architektur, in denen die Speiseräume weniger Restaurant als „Nahrungsaufnahmeanlage“ sind. Wer will schon die riesigen Betonklötze mit den acht Treppenaufgängen zu einem Hotel umrüsten, die das Nazi-„Kraft durch Freude“-Programm in den 30 Jahren für den Massentourismus errichtete. Und wer soll sie übernehmen, die alten Pensionen der Jahrhundertwende mit ihren hölzernen Wintergärten, die wunderschön aussehen, aber dringend einer Grundsanierung bedürfen? Die Ahlbecker sollen sie bekommen! So will es jedenfalls Ahlbecks Bürgermeister und seine Gemeinde will bei Verpachtung und Verkauf penibel darauf achten, daß die Einheimischen den Vortritt bekommen. Nicht nur, damit die Steuereinnahmen in der eigenen Kommune bleiben, sondern „weil wir unseren Leuten eine Chance geben müssen“. Zumindest was die kleineren „Ferienobjekte“ anbetrifft, könnten die Ahlbecker, Binzer, Heringsdorfer oder Bansiner diese Chance vielleicht nutzen. Für die großen Heime jedoch fehlt ihnen das Kapital. Millionenbeträge, so schätzt die Treuhand ganz realistisch, seien nötig, um diese Häuser auf westlichen Standard mit Dusche und WC umzubauen. Allein um die Bausubstanz zu erhalten, sind in vielen Fällen sechs bis siebenstellige Summen erforderlich. Die hat von den Einheimischen niemand. Ein Pachtvertrag, um sich wenistens über diese oder die nächste Saison zu retten — das könnte noch aus eigener Kraft klappen. Aber dann sind größere Investitionen gefragt, und die können vorerst nur von westlichen Geldgebern kommen. Die lauern auch — mehr oder minder gut durch östliche Partner getarnt — längst in den Startlöchern — tagsüber sieht man sie auf Tournee durch die kleinen Seebäder gehen, abends lungern sie an der Bar des Rügener Cliff-Hotels, das einst der SED-Nomenklatura zur Sommerfrische diente. Und wer auch nur eine Stunde im Gemeindebüro der Ostseebäder verbringt, hört die Namen von zahlreichen schlechten alten Bekannten aus der Berliner Immobilienszene. „Die wollten uns in den vergangenen Moanten mehrfach über den Tisch ziehen“, schimpft Ahlbecks Bürgermeister „piekfeine Leute das, aber in Wahrheit Ganoven, nichts als Ganoven!“ Durch Wachsamkeit habe man sie „in die Flucht treiben können. Wir waren in allergrößter Gefahr.“ Doch diese Gefahr ist längst nicht gebannt, und nicht alle Bürgermeister sind so standhaft wie der pensionierte Lehrer aus Ahlbeck.

Seit Dezember haben die Beschäftigten des früheren FDGB-Feriendienstes kein Geld mehr gekriegt. Nicht vom früheren Arbeitgeber und meist auch nicht vom Arbeitsamt. Renate Nitz, Betriebsratsvorsitzende des Ahlbecker Feriendienstes, wundert sich, „daß bisher noch nichts Schlimmeres passiert ist. Ich weiß nicht, wie die Leute das machen.“ Natürlich weiß Renate Nitz „wie die Leute das machen“. Sie macht es ja selber: die Ersparnisse „verfressen“. Wenn das Arbeitsamt irgendwann, nach Monaten zahlt, wird Renate Nitz 590 Mark Arbeitslosenunterstützung bekommen. Das heißt „den Notgroschen verklickern, der doch eigentlich mal für was Schönes nach der Rente gedacht war“. Renate Nitz ist 52 Jahre alt. Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz in Ahlbeck oder im Usedomer Hinterland hat sie nicht. „Selbst wenn neue Pächter oder Eigentümer kommen, die suchen sich streßfähigere Leute als mich. So alte Frauen oder alleinstehende Mütter nehmen die nicht.“ Die Realität gibt ihr Recht: Dort, wo die überwiegend westlichen Pächter bereits Hotels und Restaurants betreiben, arbeiten sie in vielen Bereichen mit einem Viertel des früheren Personals, und dieses Viertel muß hart ran. Renate Nitz' Sohn hat ebenfalls beim Feriendienst gearbeitet und ist jetzt arbeitslos. Vor einer Woche hat auch ihr Mann den blauen Brief vom Arbeitgeber, der örtlichen Poliklinik, gekriegt. „Daß es zunächst schwieriger wird nach der Wiedervereinigung, das hat jeder gewußt. Aber daß es so extrem wird, bei aller Liebe, das nicht.“

Sozialhilfe ist ein Fremdwort

Renate Nitz und ihre KollegInnen könnten Sozialhilfe beantragen, anstatt die Ersparnisse aufzubrauchen. Aber der Begriff Sozialhilfe ist hier bisher ein Fremdwort geblieben. Es gibt niemanden, der über Ansprüche und Anrechte informiert, keine Stelle die berät — und man wird den Eindruck nicht los, daß dahinter nicht nur Behördenchaos steckt, sondern schlichtes Kalkül.

Armut zeigt man nicht gerne, schon gar nicht vor westdeutschen Urlaubern. Aber Armut verrät sich an Kleinigkeiten: Seit die Tageszeitungen 50 Pfennig kostet, liest Familie Mewes* nun keine Zeitung mehr. In der Kaufhalle raunt man sich die Tips zu, daß „es da hinten noch unsere Flaschenmilch gibt“, denn die ist immerhin 30 Pfennig billiger als die aus dem Westen. Und die Reise- Agentur „Vineta“ bietet jetzt außer Paris und Lübeck jede Woche noch ein weiteres Reiseziel an: den nächstgelegenen Aldi-Markt im 80 Kilometer entfernten Grimmen.

Abends gehen die Dorfjugendlichen verstohlen „Westautos taxieren“. „Eigentlich sprechen wir ja dieselbe Sprache, aber irgendwie ist es doch eine andere Welt“, heißt es hinterher in der Kneipe „wir Ostler saufen viel mehr, der Westler dagegen trinkt Multivitamin-Saft, um fit zu bleiben. Der Westler ist einfach berechnender.“

Trommeln für den Tourismus

Spannungen jedoch nicht nur zwischen Ost und West. Die neue Situation schafft auch Verwerfungen zwischen Ost und Ost. „Die haben alles durcheinander gebracht!“ stapft ein alter Ahlbecker schimpfend den Strand entlang. Die alten sozialen Zusammenhänge, oft durch die gemeinsame Arbeit geschaffen, sind vielfach zusammengebrochen. Jeder muß sehen, wie er zurecht kommt in diesen Zeiten, in denen tendenziell jeder zu kurz kommt. Das schürt Mißtrauen und Intrigen, schafft undurchsichtige Veränderungen: Der Hotelleiter des Ostsee-Hotels ist von einem Tag auf den anderen durch einen neuen ersetzt. Warum, darüber wird nur gemunkelt. Warum die Bürgermeisterin schon seit Wochen die Genehmigung für eine Gaststätte am Sportplatz verweigert, mit der sich ein junges Ehepaar aus der Arbeitslosigkeit raushieven will? Die Bürgermeisterin wolle nur selber ihre Schäfchen ins Trockene bringen, vielleicht müsse man mit ein paar Scheinen nachhelfen, wird getuschelt.

Da tut es gut, wenn man einen Sündenbock vorschieben kann, der Schuld daran ist, daß man gar nichts, aber auch rein gar nichts machen kann. Da ist es bequem, wenn allein die ungeklärten Eigentumsverhältnisse und die Treuhand verantwortlich gemacht werden können. Da fragt niemand, warum die meisten Cafés und Gaststätten seither nicht einen Klecks neue Farbe gesehen haben, obwohl es nun an Ölfarbe nicht mehr mangelt. Da erwachen die Bürger des Seebads Sellin erst vier Wochen vor Saisonbeginn aus der lethargischen Starre, und ihnen fällt mit monatelanger Verspätung ein, einen Fremdenverkehrsverband zu gründen, um den Ort für Gäste attraktiv zu machen. Da wird die private Zimmervermietung, die den Einheimischen einen Zusatzverdienst verschaffen könnte, für den gesamten Ort noch vom Küchentisch aus vermittelt. Andernorts hat diese Zimmervermittlung „leider noch kein Telefon“, um Vorbuchungen entgegenzunehmen. „Bei uns“, so meint der Chef des Rügener Fremdenverkehrsverbandes „wird eben manchmal noch getrommelt“.

In ein oder zwei Jahren wird es dann hoffentlich auch an der Ostseeküste mit dem Trommeln vorbei sein. Und in drei bis fünf Jahren, so lauten die Prognosen der Touristik- Experten, könnten die Seebäder hochgefragte, herausgeputzte Ferienziele sein. Einen sanften Tourismus werde man pflegen, versprechen unisono die Bürgermeister der Ostseebäder, ohne Hochhäuser und Abrißbirne und ohne all die Fehler des Westens. Ob diese Verheißungen dem Druck der Spekulanten und Touristikunternehmen standhalten können, wird sich zeigen. Schon heute steht jedoch fest, daß für viele ehemalige DDR-Bürger der Traum vom Urlaub an der Ostsee weiterhin ein Traum bleiben wird. Sie werden ihn sich kaum noch leisten können. Und die jetzigen Bewohner der Ostseebäder werden sich fragen, ob sie es sich noch leisten können, hier zu leben.

Über Weihnachten hat Karin Hinze* ihrer 12jährigen Tochter schonend beigebracht, daß sie wahrscheinlich wegziehen müssen von Rügen, „weil es hier keine Arbeit mehr gibt“. Da hat die Kleine „Schnotten und Tränen geheult“. Nach den Weihnachtsferien kam die Tochter dann frohgemut von der Schule nach Hause: „Ist nicht so schlimm Mutti, die Evelin und Silvia, die gehen ja auch.“ Auch Erna Maschke überlegt, irgendwann zu gehen — in den Westen zu ihrer Schwester nach Krefeld. Bis dahin hofft sie auf ein paar Stücken Bernstein am Strand und tröstet sich , daß sie sich wenigstens keine Vorwürfe machen muß, denn „Ich hab ja nicht CDU gewählt.“ Da ist Erna Maschke fein aus dem Schneider — sie ist eben gar nicht erst zur Wahl gegangen.

*Namen von der Redaktion geändert.