DEBATTE
: Das kurdische Trauma

■ Ein Völkermord und das Versagen des Westens

Ungeachtet eines wachsenden Entsetzens über die blutigen Massaker an den irakischen Kurden und Schiiten sieht die Welt dem drohenden Völkermord tatenlos zu. Nachdem US-Präsident Bush und andere westliche Politiker noch vor Wochen die irakische Bevölkerung zum Sturz Saddam Husseins aufgerufen hatten, läßt man die ums Überleben kämpfende Opposition nunmehr kaltblütig im Stich. Schlimmer noch: Obwohl die irakischen Luftangriffe mit Hubschraubern klar gegen das Waffenstillstandsabkommen verstoßen, lassen die Alliierten das Abschlachten tatenlos geschehen. Dabei besitzen sie das Recht, die militärische Benutzung von Flugzeugen zu unterbinden. Daß sie dazu auch in der Lage sind, hat der Abschuß mehrerer irakischer Kampfflieger bewiesen. Was also hindert die Alliierten oder die UNO daran, auch Saddams Hubschraubern den militärischen Einsatz zu untersagen, von denen aus täglich Kurden bombardiert werden?

Große Hoffnungen hatte man noch vor Tagen in die gewachsene moralische und politische Stärke der Vereinten Nationen gesetzt. Beispielhaft war die nahezu geschlossene Soidarität der UNO im Kampf um die Befreiung Kuwaits. Doch der bitter erkämpfte und legitime Erfolg gegen Saddam Husseins Aggression droht sich durch das Dulden des Massenmordes in eine moralische Niederlage zu verwandeln. Mag sein, daß für den Schutz des kurdischen Volkes bislang kein UN-Mandat vorliegt; man hätte es längst erteilen können, nein: erteilen müssen. Schließlich traf sich der UN-Sicherheitsrat auf dem Höhepunkt des grausamen Völkermordes — um gegen die Ausweisung von vier Palästinensern aus dem Gaza-Streifen Protest einzulegen.

Daß die dringend gebotene Intervention nicht unternommen wird, zeugt von einer beängstigenden Krise der westlichen Zivilisation, die die Lehre von Auschwitz zu vergessen scheint. Zwar haben die USA bereits 1975 die Kurden — trotz fester Zusagen — schon einmal im Stich gelassen; doch so offenkundig war der Verrat an diesem Volk noch nie.

Auch die 21 Diktatoren der Arabischen Liga trafen sich jüngst, ohne den arabischen Völkermord am kurdischen Volk auch nur zu erwähnen; Gewiß, die Befürchtungen der USA und Großbritanniens sind nicht unbegründet, daß bei einer Unterstützung der kurdischen und schiitischen Opposition die engsten islamischen Verbündeten (v.a. Saudi-Arabien, Türkei und Syrien) auf Konfrontationskurs mit dem Westen gehen könnten. Mehr noch als einen gebändigten Saddam Hussein fürchten diese nämlich Kurden und Schiiten. Dazu kommt die Angst vor einem territorial zerstückelten Irak, der alsbald in die Einflußsphären des Irans, Syriens und der Türkei zu kommen droht. Die schon in der Vergangenheit so verhängnisvolle Appeasementpolitik der US-Administration gegenüber Saddam Hussein könnte auch dieses Mal zu seinem Überleben beitragen; so scheint die proarabische Fraktion in der US-Administration wieder auf die Wahnidee verfallen zu sein, die irakische Tyrannei könne sich nach dem Golfkrieg vielleicht doch noch als Stabilisierungsfaktor im Mittleren Osten erweisen.

Die Sowjetunion, mit deren Waffen die Kurden derweil massakriert werden, wendet sich sogar gegen jede UN-Kritik des irakischen Vorgehens. In bekannter Manier heißt es aus Moskau, schließlich gehe es um die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. In der Hoffnung, mit seinem Überleben auch ihren fast verlorenen Einfluß am Golf retten zu können, hält eine zynische Sowjetregierung auch jetzt zu ihrem Zögling Saddam.

Bliebe noch die westliche Friedensbewegung, die sich unversehens auf seiten der Alliierten wiederfindet. Ihr prinzipalistischer Pazifismus erweist sich jetzt nicht mehr nur als verantwortungslose Ideologie; in ihrer strikten Verweigerung militärischer Überlebenshilfe stimmt sie im Ergebnis mit der Realpolitik der Alliierten überein. Heiner Geißlers historische Kritik, auch der Pazifismus der 30er Jahre trage Mitschuld an Auschwitz, erhält so tagespolitische Aktualität. Wieder einmal überhörte man die Warnung Israels, nur eine vollständige Zerstörung der Republikanischen Garden könne einen akzeptablen Frieden ermöglichen. Die Hauptforderung der Kriegsgegner — ein möglichst schneller Waffenstillstand — zeigt sich heute als tödliche Option für die irakische Opposition.

Angesichts der jetzigen Verbrechen kann die Tatenlosigkeit des Westens (und dazu zählt nunmehr auch die UdSSR) ohne Übertreibung als Beihilfe zum Massenmord bezeichnet werden. Wo sind die Hunderttausenden geblieben, die wochenlang auf den Straßen des Landes einen vermeintlichen Genozid am irakischen Volk anprangerten, jetzt aber schweigen, da sich ein wirklicher Völkermord ereignet? Es scheint, als sei das deutsche Ressentiment gegen die Angelsachsen, das nicht wenige auf die Straßen trieb, wesentlich ausgeprägter als die Empathie für die Opfer Saddam Husseins. Wer naiv genug war anzunehmen, in Deutschland habe man aus echtem Mitgefühl für die irakische Zivilbevölkerung protestiert, muß sich nun arg getäuscht fühlen.

Daß ausgerechnet Israels Ministerpräsident Schamir lautstark gegen die Teilnahmslosigkeit des Westens Protest erhob, ist kein Zufall. Der Verrat vor allem der USA an den Kurden muß Israel besonders schockieren, weil der jüdische Staat im schlimmsten Fall ebenso auf den Schutz des Westens angewiesen wäre. Die jüdische Solidarität mit den kurdischen Schicksalsgenossen existiert denn auch schon lange. Von Unterbrechungen abgesehen, hat Israel seit Ende der fünfziger Jahre den irakischen Kurden Unterstützung zukommen lassen. Allein, die jüngst bekanntgewordene israelische Waffenhilfe, so sie denn die kurdischen Rebellen erreicht hat, war offenbar nicht ausreichend, wenigstens das Schlimmste zu verhindern.

Juden und Kurden sind die Parias des Mittleren Ostens. Traumatisch müssen die Kurden nun erleben, was die Juden im Laufe ihrer Verfolgungsgeschichte stets erfahren haben: daß selbst in bitterster Not kaum jemand zur Rettung eilt. Während sich die Juden Israels seit nunmehr 43 Jahren gegen den arabischen Vernichtungswillen mit Erfolg zur Wehr setzen, bleiben die Kurden auch künftig dem Wüten ihrer arabischen, türkischen und iranischen Feinde schutzlos ausgeliefert.

Und die Palästinenser, wo stehen sie in dieser Stunde, da ihr Idol die Kurden schlachtet? Unbeschadet aller Verbrechen stehen sie auch weiterhin zum panarabischen Henker. Keine guten Aussichten also für das israelisch-palästinensische Verhältnis in naher Zukunft. Denn eines wissen Kurden und Israelis gleichermaßen: Das Blutbad, das jetzt zum wiederholten Male nicht zuletzt wegen der politischen (und militärischen) Isolation angerichtet wird, droht auch den Juden Israels, wenn sie auch nur die geringste Schwäche erkennen lassen. Anzunehmen, daß angesichts dieser Erfahrungen und der Tatenlosigkeit der Welt Israel in absehbarer Zeit zu einseitigen Zugeständnissen bereit sein könnte, die seine Sicherheit zusätzlich gefährden würden, ist abwegig. Dies um so mehr, als eine Nahost-Friedenskonferenz, die ihren Namen verdient, in Zukunft am Widerstand der arabischen Staaten scheitern dürfte; niemals werden sie akzeptieren, daß neben dem Palästinenserproblem auch die kurdische Frage thematisiert, geschweige denn befriedigend gelöst wird. Denn die Autonomie, die Israel seit dem Camp-David-Abkommen den Palästinensern als Übergangslösung anbietet, wird den Kurden von seiten der islamischen Welt mit aller Gewalt verweigert. Doch ohne Kurden würde eine Nahost- Friedenskonferenz nur das sein, was schon lange befürchtet wird: ein Tribunal gegen Israel, das weder Palästinensern noch Kurden einen Fortschritt zu bieten vermag. Eines haben uns die letzten Wochen jedenfalls gelehrt: Solange sich in der islamischen Welt keine demokratischen Verhältnisse durchzusetzen vermögen, so lange wird es wohl auch weiterhin Krieg und Völkermord im Mittleren Osten geben. Benny Peiser

Der Autor ist Sprecher des „Frankfurter Kreises gegen Antisemitismus“