'Für einen kurdischen Staat müßten viele Menschen sterben‘

■ Interview mit einem Kurden, der seit Jahren in Bremen lebt / „Ich schäme mich als Mensch für die Alliierten“

taz: Warum wollen Sie anonym bleiben?

Kurde: Ich habe im Irak viele Verwandte, die möchte ich nicht gefährden solange Saddam noch an der Macht ist. Insgesamt sind es über 300. Ich hoffe, daß sie alle noch am Leben sind.

Hatten Sie denn in letzter Zeit keinen Kontakt zu ihnen?

Nein. Eine Woche, bevor die Alliierten angriffen, hat mein Bruder das letzte Mal angerufen. Seitdem weiß ich weder ob sie leben, noch ob sie gestorben oder geflohen sind.

Wie sah Ihr Leben in Kirkuk aus, bevor Sie vor 13 Jahren nach Deutschland kamen?

Solange ich mich erinnern kann, gab es ständig Kämpfe zwischen den Kurden und der irakischen Regierung. 1964 wurde z.B. das Dorf, in dem mein Onkel wohnt bombardiert. Sein ganzes Haus war zerstört. Zum Glück war gerade kein Mensch drin. Damals war ich gerade neun Jahre alt. Ich habe noch den Bombenkrater gesehen, als wir einmal zu ihm fuhren. Aber ich war ja noch ein Kind und habe sogar darin gespielt.

Meine Eltern haben damals ständig den Rundfunk der kurdischen Partisanen gehört und viel über den Widerstand gesprochen. Oft waren sie sehr traurig, besonders wenn sie wieder von zerstörten Dörfern hörten.

Hatten Sie damals schon das Gefühl, es sei gefährlich im Irak Kurde zu sein?

Nein, ich war sogar stolz darauf. Besonders wegen der Peshmerga, der kurdischen Wiederstandsorganisation, die war bei uns sehr berühmt. Oft habe ich gedacht, wenn ich größer bin, werde ich auch einer von ihnen.

Gab es auch schöne Erinnerungen aus dieser Zeit?

Das schönste war für mich das Fahrradfahren in der Umgebung von Kirkuk. Da ist alles so schön grün. Aber als ich ungefähr 15 Jahre alt war, wurde das gefährlich. Die Armee hatte an den Grenzen zu anderen Dörfern und Städten Zäune aufgestellt. Niemand durfte raus. Alle Straßen, die aus der Stadt führten, waren von der Polizei besetzt.

Waren Sie einmal Mitglied einer kurdischen Organisation?

Nein.

Warum nicht?

Im Irak habe ich das nicht gemacht, weil ich die Schule beenden wollte. Und später wollte ich raus aus dem Irak. Ich hatte die Nase voll von der Regierung. Jeder Mensch bei uns wurde beobachtet. Als ich nach Bremen kam, ging es auch wieder nicht, weil ich Angst um meine Verwandten hatte, ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Der Hauptgrund aber war, daß ich finde, die Kurden sollten nicht so viele verschiedene Organisationen haben, sondern zusammenarbeiten. Außerdem, wenn ich einer Organisation angehöre, muß ich machen, was sie, je nach Ideologie, von mir verlangen. Dann kann ich nicht mehr offen mit Andersdenkenden sprechen. Ich will frei sein. So kann ich mit allen diskutieren, auch über ihre Fehler.

Viele Kurdenorganisationen sind undemokratische Kaderparteien. In Hamburg wurde ein Kurde von einer rivalisierenden anderen Gruppe ermordet. Sind es diese Strukturen des Widerstandes, die Sie abschrecken?

Ich finde, in einer Organisation muß jedes Mitglied seine Meinung sagen können, sonst ist das Diktatur. Jeder Mensch hat gute Ideen, man muß ihn nur anhören. Das wird leider in den meisten kurdischen Organisationen nicht gemacht.

Und trotzdem kämpfen sie alle für ein freies und selbstbestimmtes Kurdistan. Wie soll Ihr neues Kurdistan aussehen?

Ich bin für Autonomie und die soll nicht durch Krieg, sondern durch Verhandlungen mit allen fünf Regierungen geschaffen werden. Wir Kurden wollen nicht Menschen zweiter Klasse sein. Wir wollen unsere Muttersprache lernen und sprechen können.

Es wäre also nicht nötig, einen eigenen Staat zu gründen?

Genau. Aber wenn wir nur so eine Autonomie bekommen wie jetzt im Irak, dann bin ich auch für Kämpfe. Die Kurden sollten ihr Land auf allen Gebieten selbst verwalten und eine demokratische Regierung mit verschiedenen Parteien bilden können.

Sind sie auch deshalb gegen einen eigenen Staat, weil Sie befürchten, die fünf Länder und die USA würden es nicht zulassen?

Wenn der neue Staat Kurdistan durch Krieg entsteht, dann dauert das noch etliche Jahre. Wieviele Menschen müßten dafür sterben? Ich bin für Autonomie, damit nicht so viele Menschen sterben.

Die kurdische Befreiungsbewegung hatte bis jetzt kaum Unterstützung in der deutschen Friedensbewegung. Woran liegt das?

Das verstehe ich auch nicht. Die Friedensorganisationen sind vielleicht zu einseitig. Gegen den Golfkrieg wurden tausende mobilisiert. Aber für die Kurden hat kaum eine Friedensorganisation zum Protest aufgerufen.

Kann es vielleicht daran liegen, daß die kurdischen Organisationen für die Leute hier zu unübersichtlich sind?

Bei Nicaragua hatte man doch auch nicht so genauen Einblick.

Haben die Kurden im Ausland keine Fehler gemacht?

Doch, das haben sie. Sie waren viel zu sehr zersplittert. Aber jetzt wollen sie zusammenarbeiten und deshalb finde ich, daß es zur Zeit nicht an den Kurden liegen kann.

In Kurdistan sehen im Moment die Allierten zu, wie ihre Landsleute niedergemetzelt werden. Sollte jetzt militärisch eingegriffen werden?

Ich schäme mich als Mensch für die Alliierten. Sie sehen, wie die Menschen frieren und hungern und tun gar nichts. Erst jetzt haben sie sich entschlossen, Nahrungsmittel und Medikamente zu schicken. Aber warum nicht schon vor einer Woche?

Sollten die Allierten mit Waffen eingreifen?

Sollten die Allierten angreifen?

Zumindest sollten sie den Kurden mit Waffen helfen und verhindern, daß der Irak weiter mit Flugzeugen angreift. Das ist nicht die innere Angelegenheit des Iraks, was bei uns passiert. Wir sind fünf Millionen Kurden im Irak und haben ein Recht auf unsere Freiheit und Schutz.

Ist der Vorwurf berechtigt, daß die Allierten die Leute erst ermutigt haben zum Widerstand und sie jetzt im Stich lassen?

Ich finde ja. Sie haben sowohl Kurden als auch Schiiten ermutigt zu kämpfen. Sonst hätten die kurdischen Organisationen nicht zum Aufstand aufgerufen. Sie haben gehofft, daß die Amerikaner die Flugzeuge abwehren werden. Deshalb sind die Allierten mitschuldig am Elend der Kurden.

Was erwarten Sie in dieser Situation von Bremen?

Ich hoffe, daß Bremen den Flüchtlingen hilft, und daß Hilfs- Sendungen bis direkt an die Grenze begleitet werden. Auf keinen Fall darf man etwas über den türkischen Halbmond schicken. Frühere Sendungen sind nicht angekommen. Außerdem hoffe ich, daß die Leute über 'Medico International– spenden.

Kontomummer 1800 bei der Sparkasse Frankfurt. Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Bilder ihrer Landsleute im Fernsehn sehen?

Es ging mir in den ersten Tagen ganz schlecht, als ich im Fernsehen die Flüchtlinge barfuß und die Kinder ohne Kleidung im Schnee gesehen habe. Ganz ganz schlecht. Mein Magen und mein Kopf waren total durcheinander. Ich konnte nicht schlafen und am Tage bin ich stundenlang Auto gefahren, um mich abzulenken, es ging nicht. Ich muß immer an die Leute denken, wie die da leben. Ich war 1974 in dem Gebiet, wo jetzt die Flüchtlinge sind. Ich hatte eine Zelt und hatte mich warm angezogen mit Pulli und Decke, trotzdem war mir kalt. Ich frage mich: Wie können die Kinder und Frauen und die alten Leute das jetzt da aushalten? Und hier in Deutschland wird tagelang und wochenlang diskutiert, ob man helfen soll oder nicht. Das verstehe ich nicht.

Fragen: Birgit Ziegenhagen