Die ABBA-Connection

Neues Altes von Agnetha, Björn, Benny und Annafrid  ■ Von Stephan Reimertz

Das englische Seebad Brighton liegt in verschwommener Gründerzeit-Pracht. Die Häuser und Strandanlagen, aus denen im April 1974 fader Duft der Wirtschaftsrezession aufsteigt, haben bessere Tage gesehen. Vor allem ältere Damen bevölkern die Strandpromenaden. Im Sommer bevorzugen sie ärmellose Kleider. Die rosafarbene Haut der Engländerinnen verbreitet dann einen viktorianischen Schimmer. Jede größere Badestadt an der Küste hat eine geräumige Festhalle, eine „Hall“, oder einen „Winter-Garden.“ Im April 1974, das Wetter ist launisch, es wird aber ein tadelloser britischer Mai folgen, steht die Festhalle von Brighton im Mittelpunkt der fernsehenden Welt. Sie ist Austragungsort jener klassenlosen Veranstaltung, bei der unter den führenden Schlagerrepräsentanten europäischer Nationen von obskuren Gremien der beste gekürt wird: des „Grand Prix Eurovision“ oder, wie man hier sagt, „European Song-Contest“. Die Maßstäbe dieser musikalischen Beurteilung sind schwer zu ermitteln. Nicht was gewagt und neu ist, wird hier ausgezeichnet, vielmehr eine sympathetische Wirkung, zu der auch aufwendiges Showgebaren gehört.

Pamela: „I still see it all“

Pamela S., 29 Jahre alt, Hausfrau und Mutter in ihrem Heimatort St. Margaret's Bay, vier Kilometer östlich von Dover, erinnert sich an den berühmten Samstag abend: „Ich war zwölf Jahre alt und mußte auf meine kleine Schwester Deborah aufpassen. Meine Eltern waren bei der Jahresveranstaltung des Schwimmklubs, in dem sie sich kennengelernt haben. Ich saß allein auf dem weichen rotgeblümten Teppichboden im „living-room“ und sah zum ersten Mal die vier attraktiven Schweden im Fernsehen. Eigentlich fand ich bei diesem Song-Contest den deutschen Beitrag am besten.“

Pam sagt das nicht den deutschen Lesern zuliebe. Als jahrelange Ballettelevin und Jazztänzerin ist ihre Kennerschaft ausgewiesen. Der deutsche Beitrag kam in jenem Jahr von der aus Mannheim stammenden Jazz-Pop-Sängerin Joy Flemming. „Das Lied war wirklich gut, aber die Frau war nicht glatt genug“, meint Pamela, „außerdem ist die deutsche Sprache in der Branche immer noch ein Handicap.“ Wenn man hören will, wie Deutsch für Engländer und Amerikaner klingt, muß man auf das „would-be-german“ in Chaplins Großem Diktator achten. „Wenn Abba Waterloo auf schwedisch gesungen hätte“, meint Pam, „wäre der Song vielleicht gar nicht ausgezeichnet worden, und die kommerzielle Popmusik hätte einen anderen Weg genommen.“

Mit den galoppierenden Rock- Rhythmen von Waterloo sprengte Abba in die vorderste Linie des weltweiten Musikgeschäfts. Der Name der Schlacht, bei der 160 Jahre zuvor Napoleons Armee von Wellington und Gneisenau endgültig aufgerieben worden war, bezeichnete nun einen spektakulären Etappensieg auf dem Weg zur konsequenten Synthetisierung von Unterhaltungsmusik. Dabei war das Weltbild in Waterloo durchaus konservativ. Eine Frau erlebt die Niederlage ihres vorgeblichen Widerstands gegen männliche Werbung, und sie erliegt allzu gern. Das Ganze war verpackt in jener keimfreien Erotik, eine Art „safer sex avant la lettre“, die Erbe des spezifischen nordischen Protestantismus ist und bis zum Schluß ein Erfolgsgeheimnis von Abba blieb. Anders als ihre Vorgänger waren Abba prädestiniert, bei der ganzen Familie, von der Großmutter bis zu den Enkeln, gehört zu werden. Bei allem Geschäftserfolg der nächsten Jahre blieben sie immer „clean:“ nahmen keine Drogen, hurten nicht herum und waren die meiste Zeit über verheiratet.

„Das war die richtige Tanzmusik, als die Discos noch Discos waren“, meint die ehemalige Dancing-Queen Pamela, „die Stücke waren für die Bedürfnisse von uns Pubertären maßgeschneidert. Ein bißchen Musical-Dynamik, ein bißchen Touristen-Outfit, ein wenig Beat. Pidgin- Folklore eben.“ Wie denn das Englisch der Schweden war? „Das war gar kein Englisch. Oder, wenn du willst, „Basic-English“. Deswegen wurden die auch überall verstanden. Das war ein besonderes Abba-Englisch, wie man es auf jeder Twen- Tours-Reise hörte. So wie es den Euro-Dollar gibt, gibt es auch das Euro- Englisch, das mit unserem Britisch nicht unbedingt etwas zu tun hat. Die Aussprache der Abbas war mal britisch, mal amerikanisch. Die konnten sich nicht entscheiden.“

Pamela hat eine ähnliche Entwicklung genommen, wie sie in dem Abba-Song Our last summer beschrieben wird. Nach wilden romantischen Teenager-Jahren und gescheiterten künstlerischen Ambitionen hat sie früh geheiratet und mit ihrem Mann vom Thatcher-Kapitalismus profitiert. Doch sie ist jung geblieben. Die Musik der Abbas, in die wir aus gegebenem Anlaß noch einmal hineinhören, paßt recht gut in das mittelgroße Einfamilienhaus, zu den netten Kindern und dem sauberen Garten.

Giorgo: „The winner takes it all“

Giorgio ist Mitte dreißig und einer der muskulösen Mädchenjäger, die täglich ab 16 Uhr um die Fontana di Trevi streichen. Er gehört einer der großen Familien des Landes an, die ihre Herkunft in die römische Antike, ja bis zum Kriegsgott Mars zurückverfolgen können. Giorgio ist ein alter Abba-Fan. In seiner Wohnung im familieneigenen Palazzo zeigt er uns seine, wie er sagt, komplette Schallplatten- und Bildersammlung. Er besitzt Autogramme von allen vieren. Die Familiengeschichte des gemischten Doppels kennt er so gut wie seine eigene.

Agnetha Fältskog — die Blonde — schrieb schon als kleines Mädchen ihre ersten Songs. Nach einer frustrierenden Tätigkeit als Telefonistin nahm sie Gesangsunterricht, trat schon als 15jährige in einer Band auf und hatte mit 18 den Durchbruch zu einer Solokarriere mit dem Song Jag Va Sa Kär (Ich war so verliebt). Ein Jahr später lernte sie Björn, das Babyface, kennen.

Björn Ulvaeus, fünf Jahre älter als sie, gründete schon mit elf seine eigene Skiffle Group. Als Banjo- und Gitarrenspieler wirkte er in Dixieland- und Tanzbands mit, bevor er Chef einer Folklore-Gruppe wurde, für die er auch später tätig blieb. Der folkloristische Einschlag ist ein wichtiges Merkmal des Abba-Stils. Am deutlichsten in The Piper wird etwa irische Folklore zitiert. Die Verwendung der Folklore bezeichnet bei Abba den spezifischen touristischen Weltzugang. In seiner poppigen Variante war er für die gesamten siebziger Jahre typisch.

1966 lernte Björn dann Benny Andersson kennen. Der bärtige Stockholmer wirkte in der Pop-Band „The Hep Stars“ mit und konnte schon einige Erfolge aufweisen, darunter acht Goldene Schallplatten.

Seine Freundin und spätere Frau Annafrid Lyngstad, das brünette Pendant zu Agnetha, soll eins der etwa 9.000 Kinder sein, die während des Kriegs in Norwegen auf Geheiß der Nazi-Behörden in der sogenannten „Aktion Lebensborn“ von deutschen SS-Männern mit skandinavischen Frauen gezeugt worden waren. Schon als kleines Kind kam sie nach Schweden und debütierte bereits als Zehnjährige. Jahrelang leitete sie eine eigene Band. Auch sie hatte ihren Durchbruch Ende der sechziger Jahre. 1977 lernte sie ihren Vater kennen, einen deutschen Konditormeister.

Der wichtigste aller Abbas aber ist Stig Andersson, Produzent, Manager und Teilhaber. Er hat die Gruppe überhaupt zusammengebracht, mit seiner klugen Marketing- und Investitionsstrategie hat er jede der vier schwedischen Stupsnasen und besonders seine eigene vergoldet. Er besitzt große Kenntnisse des Steuerrechts, was in Schweden ja überlebenswichtig ist. 1972 produzierte er die erste Abba-Single, People Need Love, damals noch unter dem Gruppennamen „Björn, Benny, Anna & Frida“. Nach dem Sieg in Brighton mußte er nur noch auf den Knopf drücken, um die weltweiten Public Relations in Gang zu setzen, die er schon für die Gruppe aufgebaut hatte. Weder vorher noch nachher ist je ein erster Platz beim Europäischen Schlagerwettbeweb so erfolgreich umgemünzt worden. Es heißt, der Abba-Konzern habe Anfang der achtziger Jahre sogar die Beatles finanziell überrundet. Ende 1981 errechnete das schwedische Magazin 'Affärsvärlden‘, daß Abba bereits den als reichsten Clan des Landes geltenden Wallenberg-Trust überflügelt habe. Nach dem einflußreichen Wirtschaftsmagazin hielten die Wallenbergs damals den 14. Platz, Abba jedoch den neunten. Stig Andersson besitzt die seltene glückliche Mischung aus künstlerischer und unternehmerischer Intuition. An seine „Polar Music International“ gliederte er im Lauf der Jahre Firmen der verschiedensten Branchen an. Aus Gründen der Abschreibung und Anlage wurden die vier Popsänger zu Mitinhabern von Immobilien-, Software- und Ölunternehmen.

Unser Principe Giorgio, der immer noch ein wenig in der Pubertät zu sein scheint, zählt bewundernd noch einige Marktaktivitäten seiner nordischen Wirtschaftskonkurrenz auf und meint dann seufzend: „Und mit dieser schönen Musik kann man heute keine Mädchen mehr vom Brunnen weglocken. Es muß schon Gianna Nannini sein oder Madonna oder“ — verächtlich — „Depeche Mode.“

Tommy: „Thank you for the music“

Thomas F., ein wenig jünger als Giorgio, ist Verfasser einer lesenswerten Monographie über spätantike Plastik. Er bewohnt ein kleines teures Appartement hinter der Alten Oper in Frankfurt. „Ich war noch vor zwölf Jahren ein passionierter Abba- Hörer“, vertraut er uns an , „ein altes Hemd vom Vater habe ich zum Teil in Fransen geschnitten und auf Rücken und Brust das Wort Abba und die Namen Anna, Björn, Benny, Annafrid geschrieben. Damit bin ich dann auf die Kellerparties in unserem Ort gegangen. Das war so ein Mittelschichtskaff. Ich trug damals schon diese Paukbrille, und zusammen mit dem Abba-Hemd fanden das die Mädchen süß. Damit eroberte ich sogar eine Klassenkameradin, die sonst nur auf Klassik stand.“

Die Unordnung in Tommys Wohnung läßt indes auf das Fehlen einer weiblichen Hand schließen. „Vom ästhetischen Standpunkt her“, doziert der junge Altgeschichtler, „ist der Abba-Stil wohl eine Spielart des schwedischen Handwerksperfektionismus. Siehe auch Volvo und Ikea. Stilistisch haben sie Rockmusik und Folklore beerbt, und Gruppen wie Beach Boys, Mamas&Papas, Middle of the Road, Komponisten wie Franz Grothe und Paul McCartney. Im Unterschied zu den Beatles oder den Stones setzten sie aber nicht auf Revolution, sondern auf Innovation.“

Gebannt lauschen wir den Ausführungen des Frankfurter Kulturhistorikers. Es muß wirklich ein Vorzug sein, an einem Ort zu leben, wo sich Geist und Geld verbinden und der ästhetischen Analyse stets die ökonomische folgt.

„Die Abba-Lieder“, fährt Tommy fort, „sind gar keine kalt kalkulierten Schnulzen, wie manche Verächter behaupten. Da ist bei aller technischen Perfektion — der Anfang von Head over Heels würde sogar den trockenen Tonsatz-Ingenieuren der Musikhochschule hier um die Ecke genügen — immer noch ein bißchen Seele, immer noch ein utopisches Moment, der Vorschein“ — Tommy guckt liebevoll zu seiner dunkelblauen Bloch-Gesamtausgabe hinüber — „einer besseren Welt. Das waren keine Spekulanten, die sich den Desideraten der Warenwelt sklavisch anpassen und damit kurzfristige Erfolge erzielen. Sie kannten zwar die Bedürfnisse der Konsumenten ganz genau, aber sie gingen doch mit jedem neuen Lied ein paar Zentimeter über das alte hinaus. Die Melodien waren zudem stets ein wenig einfallsreicher als die anderer Popschlager, die Harmonien ein wenig raffinierter, die Texte ein wenig engagierter. Außer der unleugbaren Professionalität war da immer noch das gewisse Etwas. Sogar meine alte Tante, die hier an der Musikhochschule Professorin für Solfeggio ist, hat zwei Abba-Alben im Schrank, und die hört sie auch. In den Discos heute ist die Musik etwas seelenlos“ — jetzt verstehen wir Tommys Einsamkeit — „die Musik reproduziert nurmehr den maschinellen Arbeitsprozeß, während der Abba-Konformismus immer noch ein Moment des Glücks und der Selbstverwirklichung offenließ.“

Befriedigt darüber, daß die Musikfreunde Johann Wolfgang und Teddy in Frankfurt noch lebendig sind, verlassen wir Thomas F., von dem wir viel gelernt haben.

Kerstin: „Something in the air“

In den mittelschwedischen Schären hat der weiße Sommer etwas Hochzeitliches. Das Wasser ist augenblau, das Boot liegt brav am Steg, die Holzhäuser stehen sittsam am Waldrand. Das Land liegt wie in vorzeitlicher Unschuld. Deutschland und die Deutschen sind fern und mit ihnen ihre beiden kategorischen Imperative: „meins ist größer als deins“ und „auch haben“. Die Popschlager der Gruppe Abba werden auf der ganzen Welt gehört, von sibirischen Katen bis zum kitschigen Coffee-Shop im Flughafen von San Francisco. Dennoch ist das Phänomen nur als schwedisches verständlich. Sportifizierter Ästhetizismus ja, aber ohne jedes aggressive Wettkampfgehabe. Millionengewinne ohne Protzerei. Mainstream ohne plumpe Anbiederung. Gelegentliches politisches Engagement ohne „high brow“-Allüren. Das schwedische Quartett, das inzwischen geschieden und auseinandergegangen ist, repräsentiert heute in der Popmusik die siebziger Jahre, wie die Beatles für die sechziger stehen. Die sympathische Viererbande, die als typisches Mittelklasse-Phänomen entstand, wurde zum klassen- und staatenlosen Identifikationsprogramm einer Generation.

„Ich möchte einmal so sein wie Frida“, erklärt Kerstin („Tscherschtiin“) Hammarskjöld, die Enkelin Dags, „emanzipiert und fraulich, professionell und dabei persönlich. Und ich möchte mindestens soviel Geld verdienen wie sie.“

Dieser Bilderbuchschwedin glaubt man alles. Die kieferngrünen Augen zwischen Blondhaar und dem Sommersprossensattel auf der kleinen Stumpfnase lassen keinerlei Zweifel zu. Sie trägt die Kleidung der Epoche: Bluejeans, darüber ein gestreiftes Marine-Teil. An den Wänden ihres Zimmers hängen Poster von Anna, Björn, Benny und Annafrid. Sie hat sie aus der Zeitschrift 'Svendsevertidanskrötagan‘ herausgetrennt, die unserer 'Bravo‘ entspricht.

Auch Kerstin war einmal eine große Sängerin vor dem Herrn. Ob sie sich heute noch an ihre Abba- Jahre erinnert?

Abba: The Hits Box (3 CDs mit insgesamt 40 Titeln), Pickwick International Ltd.

Preis bei „2001“: 39,80 DM