Warten auf das Licht am Ende des Tunnels

■ Hunderttausende sind es, die unter erbärmlichen Bedingungen in improvisierten Behausungen an der türkisch-irakischen Grenze ausharren. Solange die angelaufenen Hilfsmaßnahmen nur zaghaft greifen...

Warten auf das Licht am Ende des Tunnels Hunderttausende sind es, die unter erbärmlichen Bedingungen in improvisierten Behausungen an der türkisch-irakischen Grenze ausharren. Solange die angelaufenen Hilfsmaßnahmen nur zaghaft greifen, leisten türkische Kurden aus den Dörfern nahe der Grenze praktische Solidarität: Sie schleppen auf Mauleseln oder zu Fuß Lebensmittel in die Berge, wo immer noch die Soldaten der türkischen Armee die Flüchtlinge am Weiterziehen hindern. Auch über die iranisch-irakische Grenze wollen Hunderttausende.

Sie sterben weg wie die Fliegen“, sagt der türkische Soldat. Auf einer Anhöhe des Gebirgsmassivs, unmittelbar an der irakisch-türkischen Grenze, harrt seit Tagen eine Gruppe von 5.000 kurdischen Flüchtlingen aus — 500 Meter von Isikveren entfernt. Isikveren, ein kurdisches Dorf, ein paar Lehmhütten — vorläufiger Endpunkt der Flucht vor dem Genozid Saddam Husseins. Die Gesichter der Menschen sind erstarrt, die Kleinkinder schreien nicht. Sie haben alles verloren, nicht nur Verwandte, die auf dem Weg im Bombenhagel starben, nicht nur Haus und Hof. Seit Tagen gab es nichts zu essen. Sie warten auf den Tod; viele Menschen erfrieren. Die Toten — jeden Tag sterben allein hier mehrere Säuglinge — werden im Niemandsland in den Bergen begraben. Viele starben bereits entkräftet auf dem Weg zur Grenze.

Die Stille wird unterbrochen, als die mehrere tausend Menschen in Richtung des auf türkischer Seite gelegenen Dorfes weiterziehen wollen. Das türkische Militär schießt in die Luft. Die Soldaten treiben die Menschen wieder um mehrere hundert Meter zurück und errichten Barrikaden. Man hört Schreie der Verzweiflung. „Bitte helft uns. Es gibt für uns kein zurück in den Irak. Wir wollen irgendwo leben. Wir wollen, daß unsere Kinder nicht sterben“, sagt ein Ingenieur, der den Napalmbomben im nordirakischen Dahok entflohen ist. Die Soldaten versuchen, die Flüchtlinge auf ein Plateau, das einen Fußmarsch von einer Stunde entfernt ist, zurückzutreiben. Auf dem Plateau, das die Soldaten „goldene Ebene“ nennen, sind weitere Zehntausende von Menschen. Doch der Ort ist weiter weg von türkischem Territorium. Militärische Ordnung kehrt ein. Die Soldaten scheuchen die Kinder, die zum Wasser wollen, fort. Jeweils Gruppen von sieben Menschen dürfen zum Brunnen — um dort verseuchtes Wasser zu holen. Man steht Stunden für Wasser an.

Die Kurden haben in diesem Gebiet immer diesseits wie jenseits der Grenze gelebt. „Ich habe einen Onkel, der hier in dem Dorf lebt. Doch sie lassen mich nicht zu ihm hin“, klagt einer der Flüchtlinge. Er ist vor den Bomben Saddam Husseins aus seiner Heimatstadt Dahok nach Zaho geflohen. Dort angekommen, konnten sie nicht rasten. Mit Artillerie und den Todeshelikoptern wurde nun Zaho beschossen. Was folgte, war der tagelange Fußmarsch über die Berge in Richtung Türkei. Der Mann ist verzweifelt: „Falls die Türken uns nicht wollen, macht das auch nichts, wir gehen überall hin, in den Iran, nach Europa, nach Amerika. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr. Wir appellieren an die ganze Welt: Wir wollen Brot und Arbeit. Unsere Kinder sollen nicht weiter sterben.“

Über zwei Drittel der Flüchtlinge an der Grenze sind Frauen und Kinder. Viele sind verletzt. Unter einer Plastikplane zeigt mir ein Mann ein Kleinkind mit Hautverbrennungen: „Der Teufel Saddam hat Napalm eingesetzt.“ In dem offenen Lager grassieren Krankheiten. Von einer medizinischen Versorgung kann nicht die Rede sein.

Die meisten der Flüchtlinge in Isikveren kommen aus Zaho. Ihr Vorteil war, daß sie im Vergleich zu den anderen nahe der türkischen Grenze lebten: ein Fußmarsch von drei Tagen. Der Nordirak ist entvölkert. Nach dem Giftgasmassaker Saddam Husseins in Halabja 1988 strömten hunterttausend Kurden aus dem Nordirak in die Türkei. Zumeist waren es Bauern. Diesmal traf es vor allem die Stadtbevölkerung. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge sind Kurden. Doch auch Turkmenen, vereinzelt sogar Araber finden sich unter den Flüchtlingen.

„Farusha ist das erste Flüchtlingskind, das ins Krankenhaus im mehrere hundert Kilometer entfernten Diyarbakir gebracht wurde“, erzählt mir eine Kollegin. Farusha — ein Mädchen von acht Jahren. Ihre Eltern flüchteten nach dem Massaker in Halabja in die Türkei und leben seit drei Jahren unter erbärmlichen Bedingungen in Lagern. Farusha blieb bei ihrer Großmutter im Irak. In Farushas Beinen stecken mehrere Kugeln. Nach den Todesbomben Saddam Husseins auf die Kurden nach dem Waffenstillstand mit den Allierten flüchtete nun die Großmutter mit ihrer Enkelin in die Türkei.

Es stinkt im Raum unter der Plastikplane, wo drei miteinander verwandte Familien ausharren: zehn Erwachsene, sechs Kinder. Ein paar Decken haben sie ergattern können. Während sie ihr Kind auf ihrem Schoß wiegt, spricht eine junge Frau in fließendem Englisch zu mir. „Seit Jahrtausenden lebt das Volk der Kurden hier in diesem Gebiet. Hier sind wir Werkzeuge in türkischer Hand. Damals, nach dem Waffenstillstand zwischen dem Iran und dem Irak, folgte das Giftgasmassaker in Halabja. Heute 1991, nach dem Waffenstillstand zwischen dem Irak und den USA, kam dann das Massenmorden. George Bush hat sich geeinigt mit Saddam. Wir wurden verkauft. Alle sind für die Katastrophe verantwortlich: Deutsche, Franzosen, Amerikaner.“ Sie ist Apothekerin, ihr Mann Lehrer — eine wohlhabende Familie aus Zaho, ein Haus, Wohnzimmer mit Fernseher, Auto und eine Apotheke. „Daß die Türken uns nicht wollen, haben wir verstanden. Doch wir gehen überall hin, wir wollen leben und arbeiten.“ In der panischen Flucht haben die meisten der Hunderttausenden kaum etwas mitnehmen können. Während die Bomben fielen, hat sie in Sekundenschnelle klaren Verstand bewahrt. Sie zeigt mir ihren ungeheuren Schatz: eine Dose Milchpulver. Die anderen in dem Lager haben keins.

In den kurdischen Städten der Türkei, in unmittelbarer Nähe zur Grenze, ist Solidarität mit den Flüchtlingen eine Selbstverständlichkeit. Selbst der ärmste Mann in der kurdischen Stadt Cizre spendet: Hunderte Jugendliche sammeln täglich in den Straßen Hilfsgüter, die jeden Morgen an Flüchtlinge in den Bergen geliefert werden: Mehl, Oliven, Brot und Kleidungsstücke werden auf LKWs geladen. Über 30 Ladungen gingen bisher in das Gebiet. Angesichts Hunderttausender Menschen ein Tropfen auf den heißen Stein. An der Grenze werden die Hilfsgüter abgeladen und mit Mauleseln oder zu Fuß in die Berge weitergetragen. Die Menschen zerfetzen sich fast, wenn eine Ladung angekommen ist.

Die Koordination der spontanen Hilfslieferungen der Bevölkerung liegt bei der Stadtverwaltung Cizre. Bürgermeister Hasim Hasimi, selbst ein Kurde, verflucht die Alliierten. „Sie beobachten nur, wie die kurdische Nation in einem Blutmeer ertränkt wird“, sagt Hasimi. „Eine Schande, wie die Menschheit tatenlos zuschaut, wie Saddam Hussein Phosphor und seine Napalmbomben auf die kurdische Zivilbevölkerung werfen läßt.“

Die spontanen Sammlungen der Bevölkerung sind die wenigen Hilfslieferungen, die bei den Flüchtlingen ankommen. Doch es gibt bürokratische Hindernisse. Über ein Dutzend Straßensperren des türkischen Militärs müssen passiert werden, bevor die Schotterstraße, die entlang der Grenze führt, erreicht ist. Sogenannte Dorfschützer, die mit dem türkischen Militär zusammenarbeiten, versuchen Kapital aus dem Elend der Flüchtlinge zu schlagen. Sie übernehmen zum Teil den Weitertransport in die Berge, um dann die Hilfsgüter zu verkaufen. Eine Kalaschnikow wechselt so manchmal den Besitzer gegen ein paar Plastikplanen.

Der Zugang für Journalisten in das Gebiet wird systematisch verhindert. Zwölf militärische Checkpoints sind zu passieren, bevor man in Isikveren ankommt. Andere Gebiete der irakisch-türkischen Grenze, wo nach offiziellen Angaben Hunderttausende Flüchtlinge ausharren, bleiben den Journalisten gänzlich versperrt. Laut Verfügung des Ausnahmerechtsgouverneurs in Diyarbakir soll in dem mehrere hundert Kilometer entfernten Ort ein Pressezentrum errichtet werden. Kenner wissen, was das bedeutet: Zugang nur nach einem Genehmigungsverfahren zu ausgewählten Plätzen in Begleitung von Militär.

„Das Militär ist einfach nicht in der Lage, die Verteilung der Hilfsgüter zu organisieren“, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Abdülkadir Ates. Ates fordert, daß die Flüchtlinge in nahegelegene Ebenen verlegt werden. Zum einen können sie dort besser versorgt werden, zum anderen sind die Temperaturen erträglicher. Genau dies aber will die Türkei verhindern. Der türkische Staatspräsident Turgut Özal sprach von der Möglichkeit, die Flüchtlinge in der Pufferzone zwischen dem Irak und der Türkei — den Palästinenserlagern vergleichbar — unterzubringen. Hunderttausende sind bereits an der Grenze. Der türkische Außenminister Kutcebe Alptemucin sprach von einer Million weiteren Menschen, die sich Richtung Grenze bewegen. „In den vergangenen Tagen sind 1.500 Menschen gestorben. Hier wird ein Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Die internationale Staatengemeinschaft muß eine aktivere Rolle einnehmen“, sagte der Außenminister auf einer Pressekonferenz in Ankara. Der Außenminister schloß selbst eine militärische Intervention gegen den Irak nicht aus, um so den Flüchtlingsstrom zu stoppen: „Falls sich die irakische Führung dem Beschluß der UNO fügt, können wir das Problem in den Griff bekommen. Andernfalls ist eine militärische Lösung im Rahmen der Möglichkeiten.“

Das türkische Regime fürchtet, daß mit den Hunderttausenden irakischer Kurden das ungelöste Kurdenproblem in der Türkei weiter verschärft wird. Erst wenige Tage zuvor drang türkisches Militär in irakisches Territorium ein, um Guerilleros der PKK, die in der Türkei einen bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan führen, zu verfolgen. Mehrere Dutzend Guerilleros sollen getötet worden sein, verlautete aus Armeekreisen. Auch in Diyarbakir, so wurde mir telefonisch berichtet, soll das Militär mit Panzern und Schlagstöcken gegen eine Demonstration von Kurden auf dem Hauptplatz vor der Moschee vorgegangen sein. „Es lebe Kurdistan“, so seien sie durch die Hauptstraße von Diyarbakir, der Gazi Hassan Pasa Hani Alci, gezogen. Angefangen hatte es mit einer Lebensmittelsammlung für die kurdischen Flüchtlinge an der Grenze. Nach Augenzeugenberichten kam es anschließend zu Schlägereien, alte Menschen und Kinder liefen blutüberströmt durch die Straßen der Stadt.

Militäreinsatz gegen Kurden in Diyarbakir

Es ist dieselbe Armee, es sind dieselben Offiziere, dieselben Soldaten, die nun an der Grenze Hilfsgüter an die irakischen Kurden verteilen sollen. Faktisch bildet die Armee in dem nicht abgegrenzten Grenzgebiet zum Irak eine Barriere, um den Durchbruch der Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern. Türkische Politiker reden von einem „Verbrechen gegen die Menschheit“. Doch die Nichtöffnung der Grenzen ist faktisch Beihilfe zum Massensterben.

In der Nähe von Isikveren, das übersetzt „Lichtquelle“ bedeutet, warten die Kurden auf das Licht am Ende des Tunnels. Hunderttausende Flüchtlinge, sie alle leiden. Rund 90 Prozent von ihnen sind Kurden, die restlichen Turkmenen, Araber schiitischer Glaubensrichtung oder auch syrianische Christen. Ihre Heimatorte um Kirkuk, Mossul, Zhao, Arbil oder Dahok haben sie verlassen müssen, um am Leben zu bleiben. Sie fühlen sich vor allem von den USA „verraten und verkauft“. Ein Flüchtling aus Kirkuk: „George Bush sagte, wir sollen rebellieren, um Saddam zu stürzen. Jetzt will er mit uns nichts zu tun haben, jetzt sagt er, unser Schicksal sei eine innere Angelegenheit des Irak...“

Um sich zu wärmen, fällen die Flüchtlinge Bäume, zünden Lagerfeuer an. Was der Dauerregen naß macht, wird am Feuer getrocknet. Derweil sterben weiterhin Kinder, schwangere Frauen oder alte, kranke Menschen. Die wenigen Ärzte, die helfen wollen, sind verzweifelt. Überall röchelnde, hustende, verschnupfte Kinder, überall um Behandlung und Medizin bettelnde Menschen. Viele verfügen noch nicht einmal über Plastikplanen, geschweige denn Zelte, um sich zu schützen. Die Flüchtlingsfamilien, die über keine Plane verfügen, quetschen sich unter den Schutzdächern anderer Familien. Für die meisten jedoch ist kein Platz, sie müssen im Regen ausharren. Nacht bedeutet Tod. Hier, in den Bergen Kurdistans, herrschen Temperaturen bis zu 15 Grad minus. Ömer Erzeren,

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