Eine theatralische Autorenbetreuung

■ Zwei Uraufführungen von Reiner Groß in der Regie von Alexander Lang im Schillertheater

Ein beinahe Unbekannter auf der großen Bühne des Schillertheaters! Weil die deutschen Staatsbühnen — wie ein seit Jahren nicht gespielter Berliner Dramatiker sagt — im allgemeinen vorzugsweise Stücke von toten Ausländern (Shakespeare, Beckett oder Bernhard) aufführen, erscheint es schon nachgerade tollkühn, wenn ein Regisseur wie Alexander Lang den beiden Erstlingen des lebendigen Eingeborenen Reiner Groß zur Uraufführung verhilft. Und wenn dann noch Namen wie Walter Schmidinger, Katharina Thalbach und Bernhard Minetti auf der Besetzungsliste stehen, dann, ja dann findet sich tout Berlin zur Premiere ein und pellt die frisch manikürten Daumen aus den Straßenhandschuhen, um sie im alles entscheidenden Augenblick zu heben oder zu senken.

So kam es, daß die Uraufführung der Stücke Nacht und Nördliche Stadt von Reiner Groß am Sonntag von vornherein unter dem Druck stand, ein Ereignis werden zu müssen, das es an Prominenz mit seinen Beiwohnern aufnehmen konnte. Entweder, soviel stand fest, wollte man hier am späten Abend wenigstens den Botho Strauß der neunziger Jahre aus der Taufe gehoben oder eine Dramatikerkarriere beendet haben, bevor sie begonnen hatte. Daß Alexander Lang, der Veranstalter dieses Circus, nur etwas getan hatte, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, als er sich mit dem Erstlingsstück eines Zeitgenossen ebenso liebevoll beschäftigte wie noch kurz zuvor mit dem gut zweihundert Jahre alten Erstlingsstück des nachmals zum Klassiker geadelten Exilschwaben Friedrich Schiller, interessierte am Sonntag nicht: man wollte das Außergewöhnliche oder gleich gar nichts.

Der heutige Hoffnungsträger Reiner Groß ist Jahrgang 1957, war im wehrpflichtigen Alter laut Programmheft eine Zeitlang »Matrose«, schloß 1981 die Schauspielschule in Bochum ab und wurde vom Fleck weg an Claus Peymanns Bochumer Schauspielhaus engagiert, wo er — was nicht ohne Auswirkungen auf seine Stücke geblieben ist — unter anderem zusammen mit anderen Schauspielschulabsolventen in Heiner Müllers Schlacht spielte.

Nacht und Nördliche Stadt wurden 1989 und 1990 in Berlin geschrieben. Beide Stücke handeln vom Leben in der großen Stadt. Daß Ort und Zeit der Entstehung ihnen anzumerken sind, ist also nicht das schlechteste, was sich über sie sagen läßt: wenn etwa die Nördliche Stadt mehr mit Brechts Mahagonny als mit dem Berlin eines — sagen wir — Botho Strauß zu tun hat, dann liegt das nicht so sehr daran, daß Groß sich eher von Brecht als von Botho Strauß inspirieren ließe (denn er läßt sich vielfältig inspirieren), sondern daran, daß die Stadt, die er seit 1987 kennengelernt hat, nicht mehr das gemütliche alte West-Berlin mit seinen manchmal etwas ruppigen Familienstreitigkeiten ist. Die Glückssucher kommen nicht mehr nur aus Ankara oder Waiblingen, sie kommen von überall her. Bei Groß sind sie untereinander fremd, tragen Messer bei sich, mit denen sie ihr Revier absichern und den Besitzenden die Kehle durchschneiden: »Das Leben eines Menschen ist nicht einen Handschlag wert in der Ordnung dieser Welt und die nackten Leiber des Südens strömen an die verwehrten Futtertröge der nördlichen Welt.«

Groß spricht, wie zu oft, laut aus, was er eigentlich zeigen wollte. Er bleibt im Allgemeinen, im Symbolischen, weil er sich nicht traut, genauer zu werden, und das schadet seinen Stücken. Seine Figuren repräsentieren: den Polen, den Neger, den Penner, die Hure. Alles, was sie tun, ist mit dieser Stellvertreterfunktion belastet. In Nacht ermordet der Schwarze Laye Abu Somaré (Michael Maertens) die Araberin Habiba (Maria Hartmann), die sich von dem reichen Herrn Deimler hat heiraten lassen. Wer das nicht gleich versteht, dem wird erklärt: »...ich bin nicht ich, ich bin die dritte Welt, ich lebe tausend Tage ohne Nahrung, zweitausend Tage ohne Wasser.« Wenn dann im Zwischenspiel noch Europa, Nordamerika, Afrika und Asien persönlich auftreten und sich zanken, wird die Symbolisierung bloß verdoppelt: obwohl die Szenen gut geschrieben und nicht schlecht gespielt sind, haben sie im Stück im Grunde nichts mehr zu sagen.

Wenn Groß glaubt, poetisch werden zu müssen, verkrampft sich seine Sprache, wird verquast und pathetisch (und der Rezensent erinnert sich daran, daß auch er — wie alle Gymnasiasten — einst nach frisch überstandenem Deutsch-Leistungskurs ein Stück Welttheater in die Schublade schrieb): »Rübezahl. Mit großen Schritten Täler stampfend, entkam nicht, stürzte und verblich. Wär ich ein Zyklop und machte eine Insel schwanken, ein Goliath und krachte in den Staub.« Groß ist vorsichtig genug, das nicht bloß ernst zu meinen, er spekuliert zugleich auch auf die zur Zeit so beliebte Beliebigkeit des Zitierens; aber gerade in dieser Ambivalenz zeigt sich seine Unsicherheit.

Das Merkwürdige ist, daß er auf solche Verirrungen in den literarischen Tiefstsinn mühelos verzichten könnte. Seine Stücke sind dort gut, wo er schlichten, schönen, sauberen Dialog schreibt oder knappe Regieanweisungen gibt: »Ein Singhalese und ein Tamile schlagen sich mit Rosen.« Es mag sein, daß die bedeutungsdeutelnden Arien und der vorsichtige Verzicht auf zuviel Eigenes den ausschließlichen Zweck hatten, den Stücken auf eine bedeutende Bühne zu verhelfen. Dann hätte Groß vielleicht recht: verhindert haben sie es zumindest nicht.

Alexander Lang hat die beiden Stücke mit viel Sympathie und freundlicher Ironie inszeniert: unter dem blauen Mond (Bühnenbild: Caroline Neven Du Mont) belauern und bekämpfen sich die Großschen Weltstadtneurotiker im Biergarten und im Café, am Kiosk und auf der Straße, bis sie sich dann schließlich gegenseitig massakrieren. Beide Stücke verenden schließlich regelrecht an Personalmangel, jeder tötet, weil niemand einen Grund sieht, es zu lassen.

Der Text wird auch dort nicht ganz ernst genommen, wo er eigentlich ernst genommen werden will. Er wird dadurch jedoch nicht denunziert, sondern bekommt so durch die Regie eine gewisse Leichtigkeit geschenkt. Was in den Stücken steckt, was in ihnen stecken könnte, das zeigen in Nacht Walter Schmidinger als schüchterner Alkoholiker, der seinem Hund nachtrauert, und in Nördliche Stadt Katharina Thalbach als Prostituierte Marne. Beide finden mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Rolle im Stück. Statt sich zu distanzieren oder sich herabzulassen, ziehen sie ihre Figuren aus dem bloß Symbolischen und Allgemeinen heraus, und die folgen ihnen mühelos wie der ferngesteuerte Hund, den sich Schmidinger in Nacht einfängt. So macht die Aufführung mehr aus den Stücken, als sie sind. Und das ist gut so. Denn wenn keine besseren Stücke geschrieben werden, dann liegt das vielleicht auch daran, daß den Autoren so selten vorgeführt wird, wie sich ihre Stücke verbessern lassen. Anselm Bühling