Die Skala sittlicher Entrüstung

Werner Schroeter dramatisiert in Hamburg Alfred de Musset und beglückt das erregungswillige Publikum  ■ Von Elke Schmitter

Werner Schroeters „Lear“- Inszenierung vergangenes Jahr in Düsseldorf war so provokativ, daß noch in der vorletzten Vorstellung — als selbst in der Weltstadt Düsseldorf alle wußten, was auf ihrer Bühne gespielt wurde — nicht wenige Herrschaften schimpfend den Saal verließen. „Ich bin doch nicht im Puff!“ schrie einer in Dunkelblau, der diesen Umstand wohl bedauerte. „Ja, so eine Ferkelei!“ flankierte hilfreich ein anderer.

Die Damen verzogen das Gesicht, und die Herren trugen ihr Gesäß davon — und das alles nur, weil jemand wirklich Shakespeare spielen ließ. Denn da kann es schon mal vorkommen, daß eine Frau einem Manne ans Gemächte faßt, und außerdem ist es möglich, daß der Mann sich umstandslos revanchiert. Und da gibt es tatsächlich Aggressionen, die nicht im Stehkragen per Duell ausgetragen werden, sondern sich weniger appetitlich zeigen, sogar im Kampf der Geschlechter. Es kann also passieren, daß in diesem elisabethanischen Chaos die Affekte und Begierden Formen annehmen, die sich im Düsseldorf von heute nur noch im Puff finden. Weshalb der Schreihals mit seiner Enttäuschung nicht ganz unrecht hatte.

Werner Schroeters Konzept war ein historisch genaues: Die rohe Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Empfindungen, die der bürgerliche Affekthaushalt längst integrierte, noch einmal so zu zeigen, wie Shakespeare sie, auch sprachlich, präsentiert. Die Obszönität seiner Inszenierung war damit nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig, es war keine Provokation à la mode, sondern eine Technik der Wahrheitsfindung. Die Tatsache, daß das Publikum sich darüber noch zu erregen vermochte, gab ihm einmal mehr recht.

Für seine Dramatisierung und Inszenierung von Alfred de Mussets Novelle Les caprices de Marianne wählte Schroeter dasselbe Regiekonzept, aber diesmal überzeugte es weniger. Auch hier: das Spiel mit An- und Auszüglichkeiten, die Rettung in Slapstick und Kalauer. Schroeters Inszenierung ist ökonomisch und einfallsreich, aber sie setzt auf eine andere Gleichzeitigkeit: die Diktion des Sturm und Drang, die Kleider der Restauration, die Obszönität des Mittelalters, die Geständnissucht der Romantik, die Gruppendynamik der Gegenwart. Lauter Gestaltungsmittel, um einer Vorlage beizukommen, die nichts berichtet, was wir nicht schon wüßten. Die Geschichte einer unglücklichen Liebe, angesiedelt in Neapel um die Mitte des letzten Jahrhunderts: eine hitzige, romantische, hysterische Geschichte der Begierden und Affekte, eine zutiefst bürgerliche Geschichte. Die Doppelmoral der feinen Gesellschaft, die Ehe als Institution von Statusdenken und Besitzbewußtsein, die Eliminierung authentischer Empfindungen ins Gehege der folgenlosen Romantik, die Melancholie der jungen Männer, die mit Suff, Scharade und Lyrik dagegen revoltieren, bis sie es schließlich genauso machen werden: idyllische Zeiten, da die Menschen noch an ihrer Gesellschaft litten und an nichts sonst.

Schroeters Schauspieler sprechen den Text als Halbparodie, was ihn seiner Psychologie entkleidet. Die Geschichte selbst ist damit entmachtet, man verliert schnell das Interesse an einer Bühnenerzählung, die sich selbst unterläuft. Diese Bewegung des Widerspruchs erzeugt aber auch nicht den Eindruck der absichtlichen Demontage: Schroeters Schauspieler (die alle mit enormem Elan tätig sind) denunzieren ihre Figuren nicht, aber sie nehmen sie auch nicht ernst. Der allwissende Erzähler Schroeter gibt den Delirien der Liebe, des Trübsinns und des Alkohols denselben Raum, und in diesem Raum gibt es keine Kurve mehr, die auf etwas zielte. Schroeter zeigt de Musset als Gesellschaftskritiker, aber wir können dessen Bitterkeit nicht mehr teilen, denn seine Zeiten sind abgelebt. Warum Schroeter sie uns noch einmal zeigt, erfahren wir nicht. Wir erfahren allerdings, daß in der Skala sittlicher Entrüstung die Düsseldorfer ganz oben stehen: Das Hamburger Premierenpublikum klatschte mit bemerkenswerter Entschlossenheit und bejubelte jeden Griff ins Halbnackte.

Alfred de Musset: Marianne/Les caprices de Marianne, deutsch von Dimon Werle. Regie: Werner Schroeter, Bühne: Alberte Barsacq. Mit Sona Cervena, Heikko Deutschmann, Gerd Kunath, Jan Josef Liefers, Oana Solomonescu, Lothar Rehfeldt u.a.; Thalia Theater Hamburg.