In Ossetien wehen noch die roten Fahnen der KPdSU

In Georgien verschränken sich die Nationalitätenkonflikte. Einerseits wollen die Georgier ihre Unabhängigkeit gegenüber Moskau durchsetzen, gleichzeitig aber beschneiden sie die Autonomie für die ethnischen Minderheiten im eigenen Land. Die Moskauer Zentrale hat sich diesen Konflikt zunutze gemacht: Die Folge sind gewaltsame Auseinandersetzungen.  ■ AUSTBILISSIKLAUS-HELGEDONATH

Der adrette junge Mann, im modischen Aufzug mit den ausgefallenen Brillengläsern hatte schon die ganze Zeit in der Hotelhalle in Tbilissi (Tiflis), der georgischen Hauptstadt, herumgelungert. Welchen Geschäften er nachstieg, war auf Anhieb klar. Er gehört zu jener Spezies von Schwarzhändlern und Devisenhaien, die man in jedem besseren Etablissement der Sowjetunion trifft. Nicht selten sind sie unangenehme Zeitgenossen. Manchmal aber auch willkommene Vorboten eines effizienteren Dienstleistungssystems.

Es war halb elf vormittags. Eigentlich wollte der Mensch vom neuen georgischen Außenministerium in Tbilissi längst zur Stelle sein. Es ging um die Fahrt nach Zchinwali, der kleinen Hauptstadt des ehemaligen Autonomen Gebietes Südossetien. Seit mehreren Monaten herrscht dort Ausnahmezustand. Genauer, seitdem sich Südossetien zur eigenständigen Republik erklärt hat, weil es Teil der UdSSR bleiben möchte. Das Mutterland Georgien, das alles Erdenkliche unternimmt, um aus der Union auszusteigen, reagierte mit unnachgiebiger Härte auf das Ansinnen des kleinen Volkes am Südrand des Nordkaukasus. Die Erklärung des Ausnahmezustands reichte nicht. Eine Hungerblockade wurde über die Stadt verhängt und die Energiezufuhr gekappt. Seither herrscht Krieg, und täglich sterben Menschen.

Schließlich traf der Herr vom Außenministerium ein. Unsere erste Begegnung hatte, tags zuvor, auf der Toilette stattgefunden, zufällig, als er gerade in Geldgeschäfte verwickelt war. Da dämmerte es noch nicht, daß ausgerechnet er der Schlüssel zum Krisengebiet sein sollte. Das stellte sich erst anschließend beim Bier heraus. „Es könnte da noch ein kleines Problem geben“, meinte er — aber eher geschäftsmäßig, „zu wenig Plätze im Wagen...“ Solche Schwierigkeiten lassen sich gewöhnlich durch eine kleine Aufmerksamkeit beseitigen... In seinem Ton tauchte auch die „zweite Stimme“ auf. Alles schien somit glatt zu gehen.

Am nächsten Morgen wurde dann ein fehlendes Dokument zum Verhängnis. Der „Propusk“, ein Passierschein, müsse noch beantragt werden, wiegelte er hastig ab und reichte drei Telefonnummern rüber. „Melden Sie sich da!“ — Alte Taktik im neuen Georgien! Wenn im korruptionsanfälligen Kaukasus dem Beamten Prinzip vor Eigennutz geht, dann ist der Macht, auch der neuen, die Sache äußerst wichtig. Man wollte möglichst keine Beobachter in Ossetien. Und die Telefonnummern? Beschäftigungstherapie für die Dauer des Aufenthaltes.

Die Taxifahrer winkten alle gleich ab. Die georgische Propaganda hat schon Wirkung gezeitigt. Täglich berichten die Zeitungen über ossetische Greuel gegen die georgische Bevölkerung. Gerüchte laufen um, ossetische Freischärler zögen ihren Gegnern die Haut vom Leib und zerstümmelten ihre Leichen. Keine der beiden Seiten geht mit Anschuldigungen zimperlich um. Nur haben die Osseten keinen Zugriff auf die Medien. Nachprüfen lassen sich die Vorwürfe meist in beiden Fällen nicht.

Nur ein Hoffnungsträger blieb jetzt übrig: der adrette Schwarzhändler aus dem Hotelfoyer. Er hieß Datu und zeigte sich nicht gerade begeistert von dem Anliegen. Aber er hatte Lunte gerochen. Seine Kollegen rieten ihm davon ab, doch nach zehn Minuten Bedenkzeit und Schachern willigte er ein: „Probieren wir's.“ Ein geeigneter Wagen mußte noch gefunden werden. Mit seinem Mercedes wollte Datu nicht fahren: „Reiche Leute mögen sie da nicht.“ Seine Wohnung, für sowjetische Verhältnisse eine Präsidentensuite, im Zentrum Tbilissis versprühte noch den Charme vorrevolutionären Großbürgertums. Massive Möbel, gedrechselte Schränke, gobelinbezogene Stühle um den Eßtisch und ein Flügel. Dazwischen die zeitgenössischen Accessoires dieser Klasse: Stereoanlage, Video und TV japanischer Provenienz. Kontrapunkt dazu die heruntergekommenen Wände und Tapeten. Ihnen hatte man die Aufmerksamkeit verweigert, womöglich seit siebzig Jahren. Zwischendurch erzählte Datu, er werde demnächst nach New York emigrieren, zu seinem Bruder, der dort ein gutgehendes Architektenbüro leite. Er selbst hat auch Architektur studiert. Die Politik in seiner Heimat interessierte ihn dagegen gar nicht. Ihm ging es nur ums Geschäft, damit er nicht mit leeren Händen in den USA ankäme. Zwei Anrufe und Datu hatte einen alten Lada aufgetrieben. Er war zufrieden ob seiner Effizienz, ging zum Kanapee, öffnete die Flasche spanischen Kognak und kippte ein volles Wasserglas in sich hinein. Warum? „Ich habe Angst“, gestand er, aber „Kto nitschewo ne riskujet, nikagda ne pjet schampanskoje“, so seine Devise: „Wer nichts riskiert, wird auch nie Champagner trinken.“

Träume der Osseten

Bis nach Zchinwali sind es von Tiflis gut 120 Kilometer. Durch die nördliche Vorstadt, wo das graue Sowjetsystem dem sonst südlich charmanten verspielten Tiflis seinen Einheitsstempel verpaßt hat, geht es hinaus auf die alte georgische Heerstraße. Sie verbindet Georgiens Zentrale mit Wladikawkas, der Hauptstadt der autonomen Sowjetrepublik Nordossetien, die auf dem Territorium der Russischen Föderation (RSFSR) liegt. Ossetische Nationalisten im Süden, diesseits des Kaukasus, träumten schon lange von einer Vereinigung mit ihren Brüdern im Norden. Seit den Auseinandersetzungen mit Georgien wurden diese Rufe lauter. Doch haben sie dadurch nicht an Realitätsgehalt gewonnen. Genauso wie Tiflis wies Moskau den Wunsch nach einem einheitlichen ossetischen Staatswesen kategorisch zurück. Ethnisch gleichen Ursprungs leben beide Völkerteile aber schon seit Jahrhunderten durch die unwirtlichen Gebirgsmassive des Kaukasus getrennt, die bis zu 5.000 Meter ansteigen. Kontakte ließen sich daher nur unter großen Mühen aufrechterhalten.

Erst der „Bezwinger des Kaukasus“, wie die grusinische Heerstraße auch genannt wird, hat das erleichtert. Die Russen haben diesen Paß im 19. Jahrhundert in den Fels geschlagen. Aber nicht aus humanitären Anwandlungen, sondern als Ausgangspunkt für weitere Eroberungen. 1863 wurde die Straße fertiggestellt und 1878 mit der Einnahme von Batumi, der heutigen Hauptstadt der Adscharischen SSR, fiel das gesamte georgische Siedlungsgebiet unter zaristische Vorherrschaft. Angefangen hatte die russische Penetration im 18. Jahrhundert. Damals noch unter freundlichen Auspizien. In der Hoffnung auf Schutz vor den Raubzügen benachbarter Stämme unterzeichnete König ErekleII. einen Garantievertrag mit KatharinaII., der dem Königreich aber die Unabhängigkeit erhalten sollte. Spätere Zaren nahmen die Buchstaben des Vertrages dann nicht mehr so genau. Das Mißtrauen der Georgier gegenüber dem übermächtigen Nachbarn Rußland hat hier seine Wurzeln.

Heute blockieren georgische Milizen die Heerstraße, um die Versorgung Südossetiens mit Hilfsgütern aus dem Norden zu vereiteln.

Die Wegweiser nach Zchinwali sind durchgekreuzt oder überschmiert. Je näher die Stadt rückt, desto nervöser wird Datu. Aber er ist gerissen. Bei jedem Streckenposten hält er an, plauscht mit den Polizisten und erkundigt sich nebenbei, ob es irgendwo Schießereien gebe. Für den Passierschein interessieren sich die Polizisten überhaupt nicht. Beim letzten Stützpunkt lädt er noch einen riesigen Karton mit Brot und Obst ein. Den Proviant für die georgischen Milizionäre, die den Ortseingang Zchinwalis verbarrikadieren. So ist er in offizieller Mission unterwegs. An die hundert bewaffnete Milizionäre und einige Georgier in Zivil halten an der Barrikade oberhalb der Stadt Wacht. Zwischen meterhohen Sandsäcken, Militärgerät und ausgebrannten Autowracks. Die meisten in sowjetischen Kampfanzügen, einheitliche Uniformen tragen sie noch nicht. Man warnt vor der Brutalität der Osseten und den Gefahren, in den Kessel zu gehen. Der Passierschein ist aber vergessen. „Gehen Sie, bitte schön. Erzählen Sie uns nachher, was da unten vorgeht.“ Selbstverständlich, nach einer Bedingung klang es aber nicht. Eigenartigerweise rechtfertigten sie nochmals ihre Anwesenheit und zeigten auf ein Hochhaus, dem einzigen weit und breit im Tal, von dem aus sie jeden Abend unter Feuer genommen würden. Daß sie vielleicht niemand beschießen würde, wenn sie einfach abzögen... das wollten sie nicht verstehen.

Sondertruppen des Moskauer Innenministeriums

Ein sowjetischer Militärjeep taucht auf. Die Spezialtruppen des sowjetischen Innenministeriums sind die einzigen, die sich ungehindert zwischen den Fronten bewegen können. Seit längerem schon sind sie in Georgien stationiert. Eigentlich sollten sie die Streitparteien auseinanderhalten und befrieden. Bisher gelang es ihnen nicht einmal, die nächtlichen Scharmützel zu unterbinden. Viele von ihnen fragen sich, warum sie eigentlich vor Ort sind. Denn beide Seiten begegnen ihnen gleichermaßen mit Mißtrauen. Für die Georgier steht die Sache fest: Die Spezialtruppen versorgen die Osseten mit Waffen. Wie sollten die „Terroristen“, sogar das offizielle Tiflis nennt sie so, sonst an Kalaschnikows und Raketenwerfer rankommen? Die Logik dahinter ist ausgesprochen simpel: Die Osseten seien schon immer besonders Sozialismus- und Moskau- freundlich gewesen. Im Streit mit Georgien um die Unabhängigkeit benutze Moskau das kleine Volk nun als U-Boot. Die Freischärler seien allesamt Agenten des KGB. Diese Version vertritt auch der neue Präsident Georgiens, Swiad Gamsachurdia, der es virtuos versteht, die noch nach politischer Verortung suchenden Georgier durch seinen radikalen Nationalismus auf sich einzuschwören. Er behauptet sogar, die Soldaten lieferten chemische Waffen, die die Os-

seten auf georgische Dörfer richteten: „Ich habe sie aufgefordert, damit aufzuhören. Doch sie machen

weiter, weil Moskau es so will.“ Es klingt so, als sei er tatsächlich fest davon überzeugt.

Beweise für diese Behauptung fallen dürftig aus. Man nimmt es mit ihnen auch nicht so genau. In seinem Büro, im Neubau des georgischen Innenministeriums am Ufer des Aragwi, verbreitet auch der Pressechef des Innenministers, Wladimir Gogolaschwili, diesen Vorwurf. Er setzt seine Worte lediglich etwas vorsichtiger als sein Präsident. An jenem Nachmittag nahm er sich Zeit. „Wollen Sie die konfiszierten Waffen sehen?“ Im Hinterzimmer eines Kollegen standen die Gewehr und das Stück eines Raketenwerfers fein säuberlich aufgereiht an der Wand, mit ihrem Fundort „Zchinwali“ markiert. Nicht etwa in georgischer oder kyrillischer Schrift. Nein, in lateinischer — wohl für die ausländischer Presse. Jagdgewehre großteils, mit denen man nicht einmal 1812 Napoleon vor Moskau hätte noch vertreiben können. Doch Gogolaschwili läßt sich von der Friedensmission seiner Miliz nicht abbringen. Nie würden sie das Feuer von sich aus eröffnen.

Moskauer Manipulationen

Die Vermutung, Moskau passe dieser Konflikt gut ins Konzept, ist natürlich nicht aus der Luft gegriffen. Die innere Destabilisierung Georgiens, so mag man im Kreml denken, absorbiert Kräfte und könnte den kompromißlosen Sezessionskurs des Landes erschweren. Das spricht aber eher gegen eine massive militärische Unterstützung seitens Moskaus. Je länger die Auseinandersetzungen dauern, desto vorteilhafter für das Zentrum. Indirekt gewinnt diese Sichtweise nach Gesprächen mit Osseten in Zchinwali an Plausibilität. Offen werfen sie den sowjetischen Truppen Untätigkeit vor. Bei Angriffen georgischer Einheiten hätten sie nie etwas unternommen. Selbst wenn sich dadurch Opfer hätten vermeiden lassen. Man ist enttäuscht über die Haltung Moskaus, das sein Spiel mit ihnen treibe, wie es ein junger Arzt im städtischen Krankenhaus formuliert. Das Krankenhaus ist kaum noch funktionstüchtig.

An der Demarkationslinie

Der junge russische Soldat, der seine Routinetour zur Straßensperre oberhalb der Stadt gedreht hat, gibt nur widerwillig einen Lift zurück ins Zentrum. Er sei schließlich kein „Taxist“, nörgelt er. Und in ein Gespräch ließ er sich schon gar nicht verwickeln. Er rast die leergefegte Straße, die „Demarkationslinie“ entlang hinunter in die Ebene. Ein ossetischer Posten hängt schweigend das Drahtseil aus, das quer über die Straße gespannt ist. Kein Wort, kein Zeichen, kein Gruß. Der Russe fährt noch einige Meter und schmeißt seinen Fahrgast ohne viel Federlesens raus.

Die Stadt bietet ein Bild der Verwüstung. Zerschossene Scheiben und Haustüren. Schwelende Autoreifen, Barrikadenreste und Abfall liegen überall herum. Fast die ganze Bevölkerung scheint tagsüber auf der Straße zu sein. Trotzdem hängt eine grauenvolle Stille über der Stadt. Gearbeitet wird schon lange nicht mehr. Denn zum Verarbeiten gibt es so gut wie gar nichts mehr. Anders als in den georgischen Städten sind hier die Insignien des Sowjetsystems noch nicht demontiert. Auf dem Rathaus prangen noch die Lobpreisungen der KPdSU: „Ehre der Kommunistischen Partei.“ Und auch Lenin thront noch an seinem angestammten Platz. In den Sockel hat ein Hundertprozentiger seine politische Vision gekritzelt: „Ossetien gleich Sozialismus gleich Kuba.“ Nur wollte an diesem Tag in Zchinwali die Sonne nicht aufgehen. Ein Körnchen Wahrheit wird dran sein an den Klagen der Georgier: Immer seien die Osseten stramme Kommunisten gewesen und unbeirrt dem Kurs Moskaus gefolgt. Belohnt wurden sie mit reichlich Privilegien. Stand ein Georgier oder Ossete zur Wahl, erhielt immer letzterer den Zuschlag. Gleiches hört man natürlich auch aus ossetischem Mund. Zumindest was die letzten beiden Jahre angeht. Der Konflikt offenbart eine Menge absurder Züge. Doch der tragikomischste ist zweifelsohne: Noch vor zwei Jahren wurde der große Sohn Georgiens Josef Stalin wie ein Heiliger verehrt. Trotz Perestroika im fernen Moskau. Heute, nach den Erfolgen der Opposition, möchte man ihn am liebsten den Osseten in die Schuhe schieben. Wenn nicht ganz, so doch wenigstens zur Hälfte...

Der Haß ist derzeit unbändig. Seine Zuspitzung hat sicherlich etwas mit dem Identitätsproblem der Georgier in der Übergangsperiode zu tun. Ein wenig auch mit der überschwenglichen Emotionalität des Kaukasusvolkes. Eduard ist ein Lehrer Mitte dreißig. Mit Freunden saß er im Restaurant des teuersten Hotels in Tiflis zusammen. „Auf den Frieden, die Freundschaft und die Liebe zwischen den Völkern...“, prostete er in die Runde. Wie alle Georgier liebt er es, in Toasts über den Lauf der Welt zu sinnieren. Ein Toast ist hier, auf dem Isthmus zwischen Schwarzen und Kaspischen Meer, zwischen den Bergmassiven des nördlichen und südlichen Kaukasus, mehr als ein bloßer Trinkspruch. Ein Monolog, in dem sich die hiesige Männergesellschaft ihres Selbstverständnisses vergewissert. Der weder Ende noch Anfang kennt. Der Tamada, ein aus der Männerrunde gewählter Tischmeister, zelebriert die Liturgie. Anklänge an die Symposien der griechischen Antike werden wach, die noch heute eine ungeahnte Rolle in Georgien spielt. Sie ist der dünne Faden, der das klassische Kolchis mit Europa verbindet. Auch eine Parallele zum modernen Griechenland tut sich auf. Wie in dem Mittelmeerland, das unter der Last seiner Antike stöhnt, die die Mängel der Gegenwart schon vorab vergoldet, wird auch in Georgien das Selbstvertrauen mühsam der Geschichte entlehnt. Kaum ein Gespräch, in dem nicht vom Reich der sagenumwobenen Königin Tamara im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert die Rede wäre. Die Entscheidung zwischen Zukunft und Vergangenheit hat man hier noch nicht gefällt. Schota Rustaweli, ein Zeitgenosse Wolfram von Eschenbachs, hat es in seinem Epos Der Mann im Pantherfell beschrieben. Noch heute ist es der georgische Nationalepos. Jeder Georgier, der etwas auf sich hält, kann ganze Passagen auswendig. So auch Eduard. Es ist die weltliche Bibel der Georgier. Keine geringere Rolle spielen die Bibel und der Glaube. Georgien beansprucht für sich, das älteste Staatswesen zu sein, in dem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. Darüber kam es sogar einmal zu einem kriegerischen Konflikt mit dem Nachbarland Armenien. Auch Eduard und seine Freunde bekennen sich zum Christentum.

Schöne Christen

An diesem Abend nimmt er sogar die Russen mit in die friedliche Völkerfamilie auf. Nicht zuvorderst, aber immerhin. Draußen vor bleiben die Osseten. Eduard wohnte in einem kleinen Dorf Südossetiens bis er vor kurzem fliehen mußte. Versöhnliche Worte findet er keine. Die Unabhängigkeitserklärung Südossetiens sei ein unverzeihlicher Verrat. Seine Argumente unterscheiden sich nicht von den offiziellen Verlautbarungen. Scheide erst einmal Ossetien aus, würden auch die anderen autonomen Republiken Abchasien und Adscharien folgen. Was bliebe dann noch übrig vom georgischen Kernland? Bisher hätten alle achtzig Nationalitäten doch friedlich zusammengelebt. An diesem Punkt ist Eduard offensichtlich dem sowjetischen Internationalismus aufgesessen. Denn gewalttätige Konflikte traten schon während des kurzen Interregnums der Republik Georgien zwischen 1918 und 1921 auf. Ein Georgien ohne Ossetien und Abchasien? Das sei doch gar nicht denkbar. Sie alle haben ihren Teil zur Kultur des Landes beigetragen. Außerdem könnten die kleinen Gebiete aus eigener Kraft gar nicht leben.

„Natürlich ist das nicht christlich“, windet sich Eduard. „Aber mit den Osseten ist das ein anderer Fall...“, verstrickt sich der Lehrer immer tiefer in Widersprüchen und ringt um seine Glaubwürdigkeit als Christ. Kurzfristig macht es ihm zu schaffen, doch der Wein nimmt ihm seine Gewissensbisse. Für einen Flüchtling lebt er gut. Jeden Abend speist er mit seinen Leidensgenossen im selben Restaurant. Indes machen ihre Frauen im Foyer des Hotels Öffentlichkeitsarbeit für das Komitee der aus Ossetien geflohenen Georgier.“ Wir unterstützen die Politik des Obersten Sowjet Georgiens“, steht auf dem Transparent über ihrem Stand. Die Übereinstimmung mit der brutalen und kompromißlosen Politik Präsident Gamsachurdias kennt bisher keine Brüche. Noch nicht. Denn bis dato bewegt das Land nur eine Frage, das Schicksal der eigenen, georgischen Nation. Zum Schluß fordert Eduard den Fremden auf, selbst nach Zchinwali zu fahren und nichts als die reine Wahrheit zu schreiben, um die es auch ihm ginge. Eduard könnte diese Wahrheit nicht ertragen, denn er glaubt an die Existenz nur einer Wahrheit. Das ist das Vermächtnis des Stalinismus, der in den Köpfen aller seine Furchen hinterlassen hat.

Klagelied in Zchinwali

In Zchinwali fragen zwei Jugendliche vorsichtig nach einer Zigarette. Anfangs noch ein wenig scheu, bieten sie gleich einen Gang über das Schlachtfeld an. Ihr Russisch ist viel besser als das der Georgier. Am Theater der Stadt machen sie halt. Es ist notdürftig mit Brettern vernagelt. Die Scheiben in den Eingangstüren sind herausgeschlagen. In der Nacht zum 6.Januar waren nach Schätzungen der Osseten 5.000 bis 6.000 Georgier blitzartig in den Ort eingefallen und hatten wild um sich geschossen. Drei Wochen hielten sie die Stadt besetzt und verbreiteten Terror. Als Hauptquartier diente ihnen das Stadttheater. Anfang Februar, als Tiflis die Milizen zurückzog, hinterließen sie einen Trümmerhaufen. Das Interieur ist völlig zerstört. Mutwillig und blindwütig. Die Sitzreihen kodierten die Besatzer mit ihren Fäkalienspuren. Was sich aus der Wand reißen ließ, wurde rausgebrochen. Nur die Porträts von Marx, Engels und Lenin hingen noch an der Wand. Seltsam. In der Stadt erzählt man sich, Georgien hätte Anfang Januar eine Amnestie erlassen, über Nacht die „Ehemaligen“ in Uniformen gezwängt und nach Zchinwali verbracht. Nach dem Ausmaß der Verwüstung spricht einiges dafür.

Den Abzug der Besatzer ersetzte Tiflis durch eine Totalblockade. Der Ring um Zchinwali wurde immer enger gezogen. Tagelang saßen die Bewohner ohne Strom da, bei Minustemperaturen. Lebensmitteltransporte gelangten seither überhaupt nicht mehr in die Stadt. „Mittlerweile“, klagt der Leiter des Flüchtlingskomitees Fjodor Dschikajew, „sind ganze Dörfer Südossetiens entvölkert. Die Dörfler haben sich aus Angst vor Terroraktionen in die Stadt geflüchtet.“ Fast 80 Prozent der Städter haben Verwandte auf dem Land. „Zchinwali bricht aus den Fugen und die Flüchtlinge verschärfen die ohnehin katastrophale Versorgungslage. Außer Roggenmehl haben wir bald gar nichts mehr. Kein Fleisch und kein Zucker.“ Brot ließe sich auch kaum essen, stöhnt Dschikajew verzweifelt. Überall sieht man die Menschen mit diesen dunklen Fladenbroten rumlaufen. Nur nicht auf der Beerdigung. Im Stadtzentrum vor der Schule Nummer 4 hat sich eine tausendköpfige Trauergemeinde versammelt. In den Fenstern der Schule hängen die Porträts der bisherigen Opfer. Darunter Exerzieranleitungen der Roten Armee. Drei Tote, ein junger und zwei ältere Männer, die Tage zuvor ermordet worden waren, sollen heute im Schulgarten beigesetzt werden. Ihre Gräber sind schon zwischen zarten Baumtrieben ausgehoben. Gleich mehrere noch daneben. Ihre offenen Särge stehen am Eingang aufgebahrt. An ihrem Kopfende klammern schluchzende Frauen. Aus dem Lautsprecher dringt eine mahnende und beschwörende Frauenstimme auf ossetisch. Es klingt als spräche sie in Versen. Und tatsächlich war die Totenrede auf Versmaß gebracht, wie sich anschließend bei einer russischen Rede, ebenfalls in Versen, herausstellte. Vor Faschismus und Genozid warnte sie. Mit lauter und eindringlicher werdender Stimme, erhob sich auch der Klagegesang der alten Weiber. Gespenstisch.

Der Friedhof Zchinwalis liegt oberhalb der Stadt. Dort, wo die Milizen die Straße verbarrikadiert haben. Seit Wochen können die Einwohner ihre Toten dort nicht mehr beisetzen. Im Altersheim liegen schon zig Leichen im Gartenschuppen, weil man im Stadtgebiet keine Grabstellen mehr findet. Ein grauenvoller Anblick. Außerdem erhöht sich die Seuchengefahr. Als die Strom- und Wasserzufuhr gekappt wurde, starben alte Menschen und Kranke reihenweise dahin. Die georgischen Milizen vor dem Friedhof streiten alles ab. Nie würden sie die Osseten daran hindern, ihren Friedhof zu besuchen. Lediglich nach Waffen kontrolliere man sie, weist ein ehemaliger Mittelstürmer des Tifliser Erstligisten, nun im Rang eines Unteroffiziers, die Frage empört zurück. Das seien alles Ammenmärchen und seine Kameraden flichten ihm kopfnickend bei. Selbst wenn sie sie nicht behelligen sollten, reicht die Präsenz bis unter die Zähne bewaffneter Milizionäre aus, um die Menschen einzuschüchtern und abzuschrecken. Das ist schließlich ihre Mission. Denn einen anderen Sinn ergibt die ganze Blockade nicht. Auch wenn einige von ihnen glauben, einem hehren nationalen Interesse zu dienen.

Starre Positionen auf beiden Seiten

Die Fronten zwischen beiden Parteien sind völlig verhärtet. Keiner von ihnen möchte auf den anderen zugehen. Seit Anfang Februar leitet Reso Chugajew die „Regierungsgeschäfte“ in Zchinwali. Der neugewählte Präsident Torez Kolumbegow wurde Ende Januar unter Terrorismusverdacht verhaftet. Für Präsident Gamsachurdia ist Kolumbegow „ein Anführer der Terroristen und Organisator bewaffneter Banden, ein gewöhnlicher Terrorist“. Chugajew, käseweis, sitzt in einen dicken Mantel gehüllt im riesigen Konferenzsaal des Rathauses. Er spricht mit schwacher Stimme, in seinen Augen steht Resignation. Anfangs habe man noch mit Georgien zu reden versucht. Aber vergeblich. Sogar der Oberste Sowjet der UdSSR hätte ja Resolutionen verabschiedet und Gorbatschow ein Dekret erlassen. „Doch sie lehnen alles kategorisch ab.“ Gamsachurdia stellt es genau andersherum dar. Gespräche hätte man angeboten. Doch Ossetien sei nie verhandlungsbereit gewesen. Chugajew hält das alles für Heuchelei: „Die haben unsere Lebensadern gekappt, das Vieh vertrieben und unsere Gärten verwüstet. Dann haben sie so getan, als wollten sie verhandeln. Als es so weit war, sagten sie, wir können mit keinem von euch reden.“ Für ihn folgt all das ein und derselben Logik: „Natürlich kann man nicht mit jemandem reden, den man vernichten will.“ Hoffnungen hegt er keine mehr. Die Wahl bleibe nur noch zwischen Vernichtung oder Vertreibung. „Wenn es keinen Schutz vor Verbrechen gibt“, meint er verbittert an die Adresse Moskaus gerichtet, „dann ist schon die Untätigkeit ein Verbrechen.“

Auf dem Rückweg in der Dämmerung die „Demarkationslinie“ entlang zum Stützpunkt machen sich die georgischen Freischärler hinter Sandsäcken „nachtfest“. Oben wartet Datu. Ihm hat es zu lange gedauert. Er möchte noch einen Nachschlag.