ESSAY
: Das Recht auf Tyrannei

■ Der kurdische Alptraum und das Dogma der „Staatssouveränität“

So sieht sie also aus, die neue Weltordnung. Kurden sterben auf Berghängen, unsere Nato- Partner schießen über ihre Köpfe, damit sie dort bleiben, und der Präsident spielt Golf. Es ist eine Schande.

Ich beobachtete dieses Drama von Frankreich aus, aber in der französischen Presse drückte niemand so kräftig auf die Tränendrüsen wie Bernard Levin, Doyen der britischen Pressekolumnisten. Beweint das Schicksal der Kurden, erklärte er am Donnerstag den Lesern der 'Times‘; beweint sie, aber denkt daran: in der Welt gibt es zuviel Elend und Schmerz, als daß wir uns jedesmal einmischen könnten. Die Kurden mögen unsere Brüder sein, aber wir sind nicht ihre Hüter.

Margaret Thatcher erkannte die öffentliche Stimmung etwas besser als Bernard Levin. Sie wußte: es muß etwas geschehen. Also geschieht etwas, was in solchen Fällen immer geschieht: es regnet humanitäre Hilfe. Vom Himmel fallen Zelte und Lebensmittel. Man schickt Heftpflaster auf dem Eilweg. Wohl besser als nichts.

Vom Himmel fallen Zelte und Heftpflaster

Doch jeder kann sehen, daß wir sehr viel mehr hätten tun können. Heute mögen die Franzosen im humanitären Bereich an vorderster Front stehen, aber wo waren sie, als der US- Entwurf für die Waffenstillstandsbedingungen diskutiert wurde? Und wo waren die Briten? Wir hätten den Irakis eine Form föderativer Autonomie unter UN-Aufsicht für die Kurden und die Schiiten abverlangen können.

Noch ist es für eine Einmischung nicht zu spät. Noch können wir den verängstigten Menschen helfen, ihre Berghänge zu verlassen und unter UN-Eskorte nach Hause zurückzukehren. Noch können wir drohen, Saddams Bunker zu bombardieren, bis er die weiße Flagge hißt, wenn er ihnen etwas zuleide tut. Auf einer niedrigeren Ebene läßt sich „Frieden und Stabilität“ in der Region nicht herstellen. Wenn wir uns mit humanitärer Hilfe begnügen und gleichzeitig unsere Truppen zurückziehen — möge Gott den Kurden helfen, den Rebellen im Süden und den Schiiten.

Wenn wir nichts tun, erlauben wir die Verwandlung eines Volkes in eine Nation auf der Flucht. Denken wir denn wirklich, daß die Kurden auf ewig in ihren Lagern bleiben werden, nachdem unsere guten Engel ihre Zelte und Lebensmittel und Heftpflaster abgeworfen haben und nach und nach Zelte gegen dauerhafte Blechschuppen eintauschen? Es gibt jetzt zwei Völker, die mit den Arabern und dem Westen eine Rechnung zu begleichen haben: die Palästinenser und die Kurden. Wenn wir von den Palästinensern irgend etwas gelernt haben, dann dies: aus einem Flüchtlingslager kommt nur Revanche. Wir können nicht so tun, als würde dieses Problem einfach verschwinden.

All dies ist denkbar einleuchtend. Weniger einleuchtend ist die Mischung aus Zynismus, Realpolitik und dem, was Frau Thatcher unnötiges Befassen mit den „rechtlichen Feinheiten“ der Nichteinmischung nennt — eine Mischung, die es uns erlaubt, nichts für die Kurden tun zu können.

Die französische Diskussion dieser Fragen ist wichtig. Seit 1988 versucht die französische Regierung, internationale Unterstützung für die Idee eines „Rechtes auf humanitäre Einmischung“ für Fälle wie den Irak zu gewinnen, wo Tyrannen nationale Minderheiten massakrieren. Hier geht es nicht um Heftpflasterabwürfe und Lebensmittelpakete, sondern um das Recht der UNO, Sanktionen und notfalls auch eine militärische Intervention zu autorisieren, wenn Genozid, Massenmord und Folter zur Regierungspolitik eines Staates gehören.

Gegenwärtig kann die UNO Sanktionen und Interventionen nur verhängen, wenn es um Grenzverletzungen geht, wie im Falle von Kuwait. Also gibt es UN-Schutz für 750.000 Kuwaitis, die das Glück haben, einen Staat zu besitzen — aber Millionen Kurden, die keinen besitzen, werden zum Sterben in die Berge gejagt.

„Genozid ist eine Familienangelegenheit — und die Welt stimmt zu“

Auch der Genozid selbst erlaubt Intervention nur, wenn er den Weltfrieden gefährdet. Artikel 2 der UN- Charta verbietet ausdrücklich UN- Interventionen in inneren Angelegenheiten. Genozid ist eine Familienangelegenheit, meint Saddam Hussein — und die Welt stimmt zu.

Jacques Julliard, der bissige Kolumnist des 'Nouvel Observateur‘, argumentierte vergangene Woche, daß die lammfromme Unterwürfigkeit der UNO im Bereich der nationalen Souveränität sie jeglicher Fähigkeit beraube, Minderheitenrechte innerhalb von Mitgliedsstaaten zu verteidigen. Mit entschuldbarer Überspitzung schlußfolgert er, daß nationale Souveränität und Menschenrechte zu gegensätzlichen Prinzipien geworden sind. Das Völkerrecht gleicht dem präfeministischen Familienrecht: dem Haustyrannen gibt es ein unbegrenztes Recht auf Unterdrückung seiner Kinder.

Diese Respektierung des Rechts auf Tyrannei im UNO-System hat aus dem Völkerrechtsprinzip der nationalen Selbstbestimmung einen Witz gemacht. Um zu beschreiben, wie es dazu gekommen ist, müßte man die schändliche Geschichte der Kollaboration zwischen Ex-Kolonialvölkern und Supermächten nacherzählen. Wie die Pariser Völkerrechtlerin Brigitte Stern in 'Libération‘ deutlich machte, überleben die Ex- Kolonialstaaten Afrikas und Asiens, die ihre Befreiung einst durch das Einklagen ihres eigenen Rechtes auf Selbstbestimmung errangen, heute durch die Entrechtung ihrer nationalen Minderheiten. Alte Reiche wie Rußland und China mit immensen und aufmüpfigen nationalen Minderheiten tun sich mit den Ex-Kolonialmächten zusammen, um diesen bösen Konsens aufrechtzuerhalten. Zusammen stützen sie die Stabilität der modernen Tyrannen auf Kosten der Entrechtung nationaler Minderheiten, von den Balten bis zu den Kurden.

Auch heute erzählt man uns, daß wir den Kurden nicht helfen können, weil dann die Kurden Rußlands dasselbe verlangen würden wie die Balten; die Tamilen, die Tibetaner, die Kaschmiris, die Quebecer, die Katalanen, die Schotten. Nenn mir ein Land, ich nenne dir eine nationale Minderheit mit einem Anspruch auf Selbstbestimmung. Was soll dann mit der Weltkarte passieren? Mit all diesen Linien auf der Karte? Mit all diesen Bunkern der Mächtigen?

Darauf gibt es zwei Antworten. Man braucht nicht volle Souveränität zuzugestehen, um nationalen Minderheiten das Recht auf eine eigene Regierung zu geben. Föderation und Autonomie können vor vollständiger Staatlichkeit haltmachen und trotzdem Minderheiten die Mittel zur Selbstverteidigung bieten. Hätten die Kurden eine wirkliche Autonomie bekommen, von der UNO garantiert und durch eine alliierte Eingreifdrohung gedeckt — dieser ganze Alptraum wäre niemals eingetreten.

„Es gibt nichts Dringenderes als eine UN-Charta für Minderheitenrechte“

Die zweite Antwort betrifft das Recht auf humanitäre Einmischung. Was wäre denn, wenn nationale Minderheiten wüßten, daß andere Staaten sich über die UNO einmischen würden, um sie vor Massakern oder Unterdrückung zu bewahren? Was wäre, wenn die UNO eine Auflistung geschützter Minderheiten unternähme und die Respektierung ihrer Menschenrechte zu einer Bedingung der UNO-Mitgliedschaft machte? Was wäre, wenn die UNO Sanktionen und Interventionen für den Fall vorschreiben würde, daß Minderheiten wie die Kurden von Auslöschung bedroht wären?

In dieser Welt mit dem Witznamen „Neue Weltordnung“ gibt es nichts Dringenderes als eine durchsetzbare Charta der Minderheitenrechte. Die Welt ist zu klein und zu gefährlich, um sie der Gnade von Tyrannen zu überlassen. Michael Ignatieff

Aus 'Observer‘, 7.4.1991. Übersetzung: D.J.