Exzeß für Füße

■ Das Theater Zerbrochene Fenster zelebriert »Hopscotch«

Über sieben Bühnen mußt du wandern, durch »Himmel und Hölle», treppauf, treppab, an Bretterverschlägen und Blechwänden vorbei, durch herabhängende Stoffetzen hindurch und über Haufen von zerknülltem Zeitungspapier. Stockfinster ist's in der Geisterbahn und irgendwo am Ende des langen Tunnels blinkt ein grünes Licht. Als einer von sieben Zuschauern drückt man sich dem Licht entgegen. Dort erwartet einen die Familientragödie der Beimers, nein der Bergmanns, in sieben Akten. Banal, bourgeois, theatralisch.

Auf die Pumps sollte man verzichten: Wen es immer schon entnervt hat, im Theater Stunde um Stunde still auf seinem Klappstuhl zu verharren, kann sich im neuesten Stück des Theaters Zerbrochene Fenster Bewegung verschaffen: Hopscotch führt im Wortsinn durch das Labyrinth einer Familiensaga. Über die Bergmanns gibt es eigentlich nicht viel zu berichten, außer daß sich Großvater, Vater, Mutter, Stiefmutter, Söhne und Tochter im Zeitraum von 1981 bis 1993 theatergerecht: sprich überkandidelt, zueinander verhalten. Allbekannte alltägliche Horrorszenen decouvrieren sich vor aufwendigem Bühnenbild (Respekt vor dem handwerklichen Realismus der Raumgestalter Martin Ostrowski und Andreas Harnach!). Die beiden Söhne Thomas und Jan erklimmen im Kletterdreß den hohlen Aluminiumberg ihrer pubertären Probleme, oder Mutter und Vater Bergmann sitzen in einem abgeschnittenen Autofond und bejammern das Ende ihrer öden Ehe.

Soweit die ordentlich dargestellte familiäre Unordnung. Nur einmal ist man irritiert, als der Voyeurismus eine kongeniale Umsetzung erfährt. Durch ein Peepshow-Fenster blickt man in das Wohnzimmer von Sohn nebst Gattin, welche sich zwecks Stimulierung ihrer ausgetrockneten Sinne gerade einen Loverboy per Annonce aufs Sofa holen. Der schwülen Duftnote der Szenerie angemessen sprenkelt vom Schnürboden schweres Parfüm auf die Zuschauer.

Die zusammengewürfelte Familiensaga ist allerdings nur die Klammer, der bleibende Eindruck ein atmosphärischer: Die Idee, die Regisseur Barnaby Gale (Tanzmarathon) hier mit Hopscotch (zu deutsch »Himmel und Hölle«, ein Hüpfspiel auf dem Straßenpflaster) weitertreibt, ist das Gesamtkunstwerk, eine Art Totalereignis im Theater, das den Zuschauer als Konsument seines eigenen Stückes begreift. Aus diesem Grund wird nicht nur vom Labyrinth geredet, es wird einem regelrecht präsentiert. Die Symbolik wird handgreiflich und fußläufig: Wer die Fabriketage des Theaters von früheren Besuchen kennt, wird sich wundern, wie man auf mehreren hundert Quadratmetern Irrwege der abwegigsten Art zimmern kann.

Hopscotch ist also ein — theaterneudeutsch — »walk through«-Theaterstück der 2.187 Möglichkeiten. 2.187 deshalb, weil es eine Frage des Zufalls ist, welches Stück man zu sehen bekommt. Damit beginnt die Rechnerei, das Verwirrspiel. Es gibt 37=2.187 Möglichkeiten: Auf jeder der sieben Bühnen können 3 Varianten der gleichen Szene gespielt werden. Durch ein Spiel der Schauspieler mit dem Zuschauer entscheidet sich, welche Variante auf dem Plan steht. Kompliziert? Natürlich! Aber nur, wenn man sich allen Ernstes auf das Rechenspiel einläßt und alle verpaßten Chancen einkalkuliert, die fein säuberlich im Programmheft aufgelistet sind, denn sähe man nicht lieber die »Raffsucht« oder den »Exzeß« statt der gewürfelten »Enthaltsamkeit«?

Sieben Zuschauer auf sieben Bühnen in einem Labyrinth familiärer Verhältnisse — ist das Leben nicht ein chaotischer Zustand, ein unentrinnbarer Zufall?! Richten Sie sich darauf ein! Sie werden es noch mit den Füßen spüren. Nana Brink

Hopscotch vom 11. April bis zum 20. Mai, Do-Mo. Einlaß pünktlich alle 15 Minuten von 19.45 bis 22.00. Vorbestellung nötig, pro Vorstellung sieben Zuschauer.