Interview
: „Unser Streik muß und soll das Zentrum in Moskau treffen“

■ Die Bergarbeiter im sibirischen Kohlerevier Workuta wollen an ihren wirtschaftlichen und politischen Forderungen festhalten

Mit dem Angebot, die Löhne bis zum Ende des Jahres zu verdoppeln, hat die sowjetische Regierung Mitte letzter Woche versucht, den in den zweiten Monat gehenden Ausstand der Bergarbeiter zu beenden. Auf die Forderung der Kumpel nach Rücktritt von Präsident Gorbatschow gedachte die Regierung von vornherein allerdings nicht einzugehen. Doch die Kumpel in Workuta sind seit langem die kompromißlosesten in dem Konflikt mit der Moskauer Zentrale, denn weder diese Haltung noch das Lohnangebot hat die Bergarbeiter bislang dazu bewegen können, ihren Streik abzubrechen.

Die taz sprach mit Valentin Kolpassow, stellvertretender Vorsitzender des Stadtsowjets in Workuta und Mitglied des Streikkomitees, und Jurij Kostjuschenko, zweiter stellvertretender Vorsitzender des Streikausschusses.

taz: Nach den Gesprächen in Moskau mit Gorbatschow sind die Bergarbeiter entschlossen, ihren Ausstand fortzusetzen. Warum? Haben die Gespräche überhaupt keinen Fortschritt gebracht?

Jurij Kostjuschenko: Gespräche kann man das nicht nennen, was in Moskau abgelaufen ist. Der Gang der Ereignisse dort, die Vorschläge, die man uns gemacht hat, die Protokolle und all die Papiere haben wir jetzt analysiert. Faktisch hat es zu nichts geführt. Ihre Entscheidungen — nichts als Papier. Unsere politischen Forderungen haben sie rundheraus verworfen. Das ist das eine. Nirgends ist festgelegt worden, wie die Umsetzung laufen soll, aus welchen Töpfen das Geld genommen wird und wofür jeweils. Wenn die Beschlüsse angenommen werden, müssen wir womöglich das Geld selbst auftreiben. Selbst wenn die Regierung eine Lohnerhöhung verkündet, was haben wir davon? Entweder das Geld aufs Sparbuch oder in den Sack stecken. Denn zu kaufen gibt es nichts.

Die Regierung hat keine Vorstellungen, wie sich der Konflikt friedlich lösen ließe. Ohne Übergang zu normalen Marktbeziehungen wird sich das Leben bei uns in der Union nie verbessern. Das ist einer der schwächsten Momente der Politik. Zur Zeit warten wir auf die Rückkehr unserer Delegation aus Moskau.

Spielt die offizielle Gewerkschaft noch irgendeine Rolle in der Auseinandersetzung?

Das territoriale Komitee der Gewerkschaft hat sich selbst aufgelöst. Eine Assoziation unabhängiger Gewerkschaften ist gerade im Entstehen, die wirklich nur noch die Interessen der Bergarbeiter vertreten wird.

Wie stehen denn die Direktoren der Zechen zu den Forderungen der Arbeiter, unterstützen sie die politischen Absichten oder verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen als Angehörige der Nomenklatura?

Das hängt von der jeweiligen Zeche ab. Den Direktor der Oktober-Zeche haben sie einfach rausgeworfen, weil der das Unionsreferendum nicht durchgeführt hat.

Valentin Kolpassow: Zur Mehrheit der Direktoren haben wir außerordentlich schwierige Beziehungen. Der Großteil unterstützt weder den Streik noch unser Komitee.

Kostjuschenko: So kategorisch kann man das nicht sagen. Es hängt wirklich von der jeweiligen Zeche ab. Sie treten jedoch nicht mehr offen gegen den Streik auf, wie noch im letzten Sommer. Sie unterstützen uns natürlich nicht tatkräftig, stören unsere Arbeit aber auch nicht. Offene Konfrontationen kamen bisher nicht vor. Aber keine Stelle unterstützt uns, auch nicht der Stadtsowjet.

Wie setzt sich der Stadtsowjet zusammen? Haben sich die Kommunisten bei den letzten Wahlen nochmals behaupten können?

Kolpassow: Die Kommunisten erhielten 35 Sitze. Die Demokraten etwa genauso viel. Keine Seite verfügt über eine Mehrheit, aber die Kommunisten haben eine schwere Machteinbuße hinnehmen müssen.

Kostjuschenko: Eigentlich haben wir zu den Kommunisten überhaupt keine Verbindung mehr. Genosse Tereschenko, der erste KP- Sekretär ist ein sehr ruhiger Mann. Noch schweigt er. Die Partei hat schwer eins einstecken müssen. Viele Mitglieder sind ausgetreten. An der Oberfläche, direkt sichtbar, spielt sie keine so große Rolle mehr. Aber durch ihre Vorsitzenden übt sie Einfluß aus.

Im Februar wurden die Bergarbeiter von der Grubenverwaltung unter Druck gesetzt. Es hieß, man würde im Falle eines Streiks auch Krankenhäuser und Kindergärten schließen...

Kolpassow: Die ganzen sozialen Einrichtungen unterstehen der Organisation „Workugol“. Jede Zeche und jeder Kumpel zahlt einen Anteil für das, was wir soziale Sphäre nennen, in diesen gemeinsamen Topf. Während des Streiks blieben die Zahlungen aus und „Workugol“ drohte, ihren Beitrag auch nicht mehr einzuzahlen. Trotzdem haben wir uns für die Fortsetzung des Streiks entschieden.

Einerseits richtet sich der Streik gegen das Zentrum. Die Unionsregierung soll ihren Hut nehmen. Könnte das nicht aber auch negative Konsequenzen auf die Politik der RSFSR haben, die mit Siljajew gerade versucht, das 500-Tage-Programm nun doch noch irgendwie auf die Beine zu stellen?

Jedes beliebige Programm wird vom Zentrum unterlaufen oder offen behindert. Unser Streik soll und muß daher das Zentrum, den Ministerrat, den Obersten Sowjet der UdSSR und die KPdSU treffen. Nur indem wir sie alle schwächen, nützen wir langfristig den Interessen der russischen Föderation.

Wie reagiert die Bevölkerung auf die Radikalität der Bergleute?

Noch ist alles ruhig. Früher schimpften sie lediglich auf Ryschkow, auf Gorbatschow und die Kommunisten. Jetzt wissen sie schon, was sie nicht wollen. Nicht alle sind natürlich auf unserer Seite, aber die Mehrheit unterstützt uns. All diejenigen, denen man die kommunistische Ideologie kräftiger eingehämmert hat, sind dagegen. Die Kolchos-Arbeiter etwa. Sie halten uns vor, wir seien Müßiggänger. Anstatt zu streiken, sei es besser zu arbeiten. Sie haben nichts begriffen. Die Intelligenz wehrt sich ebenfalls aus Angst, ihrer Privilegien verlustig zu gehen.

Sind es nicht in erster Linie die Streikührer, die auf die politischen Forderungen drängen? Der normale Kumpel gäbe sich doch mit einer Lohnerhöhung zufrieden?

Natürlich, 90 Prozent der Leute wollen einfach besser leben. Wir sagen ihnen, wenn ihr bessere Lebensbedingungen haben wollt, dann müßt ihr auch die politischen Forderungen unterschreiben. Früher haben sie das nicht verstanden. Jetzt wissen sie, daß mehr Geld nicht unbedingt ein besseres Leben verspricht. Denn es gibt ja nichts mehr dafür. Gorbatschow und sein Team haben mit ihren Aktionen in Litauen, ihrem militärischen Muskelspiel in Moskau im März, durch die Preiserhöhung usw. in jeder Beziehung ihren politischen Bankrott erklärt. Die staatliche Verwaltung steckt in der Krise und jeder weitere Tag wird ihre Krise vertiefen. Die Kumpels haben das vor anderen verstanden.

Schuld an allem ist dieses System. Deshalb fordern wir alle Arbeiter auf, sich mit uns zu solidarisieren, um es aus den Angeln zu heben. Wenn es uns glückt, einen ein- oder zweitätigen Generalstreik in der gesamten UdSSR auszurufen, dann stehen die Herrschenden mit dem Rücken zur Wand. In Moskau sind schon Streiks ausgebrochen, in Leningrad, in Swerdlowsk und gerade in Minsk. Gorbatschow muß dann zurücktreten. Schon Sacharow meinte: Wenn alle auch nur eine Minute streiken, nimmt die Wirtschaft keinen Schaden, aber es bedeutet den Tod unseres politischen Systems.

Sind die Hoffnungen auf einen landesweiten Generalstreik trotz vieler über das Land verteilter Einzelaktionen nicht doch etwas illusionär?

Kostjuschenko: Wie die vorangegangenen Aktionen gezeigt haben, wurden 90 Prozent unserer Forderungen erfüllt: Artikel 6, der der Partei die Vorherrschaft in unserer Gesellschaft sicherte, ist abgeschafft. Wir haben das als erste schon 1989 gefordert. Wir verlangten Ryschkows Abtritt. Er ist gegangen. Wir wollten keine Parteizellen mehr in den Unternehmen. Sie sind verschwunden. Pawlow wollte nicht mit den streikenden Kumpels reden. Wieder haben sie verloren. Wir wollten unsere eigene unabhängige Gewerkschaft. Sie waren dagegen. Mittlerweile ist sie gegründet. Alles ist eine Frage der Zeit. Gorbatschow wird gehen — mit Blut oder ohne Blut. Wem die Bergarbeiter ein Ultimatum stellen, der geht. Vielleicht noch nicht in diesem Jahr, möglicherweise aber auch schon im Sommer. Der Prozeß, den wir eingeleitet haben ... Na, Sie sehen ja selbst. Interview: Klaus-Helge Donath