„Jetzt geht der Streik in Workuta erst richtig los“

Die Bergarbeiter von Workuta, die seit sechs Wochen streiken, bleiben kompromißlos / Die Bevölkerung in der Bergarbeiterstadt für Streik  ■ Aus Workuta K.H. Donath

„Fünfzig Jahre Stachanow-Bewegung“ grüßt ein Granitdenkmal den Reisenden am Ortseingang von Workuta. Alexej Grigoriewitsch Stachanow war einer der erfolgreichsten Mythenspender des Sozialismus. In der Nacht vom 30. auf den 31. August 1935 übertraf der Bergarbeiter sein Arbeitssoll um das Vierzehnfache. So jedenfalls geht die Mär. Heute weiß man, daß der zupackende Kumpel etliche Zuarbeiter hatte, die im kollektiven Dunkeln schufteten. Noch mit den Morgenröten der Perestroika 1985 verwandelte die örtliche Parteileitung diese Legende in Stein. Der Stein überdauert. Der Partei geht es an den Kragen. Ausgerechnet die proletarische Vorhut der Bestarbeiter kündigte der KPdSU ihre Gefolgschaft auf.

In dem kleinen, grünblau getünchten Holzhaus in der Leningrader Straße residiert das örtliche Streikkomitee „Statschkom“. Ein angerostetes Schild neben dem Eingang erzählt von den besseren Tagen der KP. Ihr erstes Stadtkomitee tagte hier 1953. Heute vermietet die Partei die Räume ausgerechnet an ihre Widersacher. Am Samstag abend treffen sich dort die Streikführer der elf Gruben. Seit sechs Wochen sind sie im Ausstand. Es ist keine ihrer täglichen Routineversammlungen. Der Rapport des stellvertretenden Vorsitzenden des Workutaer Streikkomitees wird erwartet. Soeben kehrte er aus Moskau von den Gesprächen mit Gorbatschow und Premier Pawlow zurück. Einige der Kumpel sitzen noch beim Schachspielen. Hinter ihnen hängt ein Zementsack mit der Aufschrift „Parteibücher“, daneben ein Transparent: „Jelzin die Präsidentschaft — Gorbatschow eine Datsche in Workuta.“

Die Stimmung ist gelassen, als der breitschultrige Zweite Vorsitzende Wjatscheslaw Dukan leise seinen chronologischen Bericht gibt. Er ist sehr ruhig und sehr genau. Zu genau. Denn Unruhe macht sich breit. Die Kumpel wollen wissen, was dran sei an dem Gerücht, die Streikführer hätten in Moskau eine Vereinbarung mit der Regierung unterzeichnet.

So hatte es die Nachrichtensendung des sowjetischen Fernsehens gemeldet. Andere Programme lassen sich in Workuta 160 Kilometer nördlich des Polarkreises nicht oder nur schlecht empfangen. Der Nachrichtenfluß ist spärlich. Die Tageszeitungen sind meist Tage alt, wenn sie hierher gelangen und auch der kritische Sender Radio „Rossija“ sendet nur drei Stunden am Tag auf seinem zweiten Kanal. Nur wenige hören ihn. Dukan wehrt Vorwürfe ab, überhaupt an dem Treffen teilgenommen zu haben. Das ließe sich nicht anders machen. Aus der Runde kommt die Frage, rein rhetorisch: „Was nutzt es Gespräche mit ihnen zu fordern, wenn man ihren Rücktritt will.“ Dukan stimmt zu. Gespräche seien es auch gar nicht gewesen. Seine Delegation hätte nichts unterschrieben. Die Vorschläge Pawlows wären nicht annehmbar gewesen. Ja, zum Teil fielen sie noch hinter die Vereinbarungen aus dem Sommerstreik von 1989 zurück. Es sei für ihn aber wichtig gewesen, das Geplänkel einmal hautnah miterlebt zu haben: „Ein Schauspiel war es, Maskerade, mit Pawlow als Regisseur.“ Die Runde ist beruhigt. Ob er ihre Fragen Gorbatschow gestellt hat? „Nicht alle ...“, zögert Dukan. Aber doch die wenigstens, warum Gorbatschow sich auf die Seite des militärisch-industriellen Komplexes schlage, der das ganze Land knechtet? „Ja, die ja“, Dukan wacht, richtet sich auf. „Die hab ich gestellt, natürlich.“ Und was hat er darauf geantwortet? Der Streikboß sinkt mit einem Lächeln auf seinem Stuhl zurück. „Nichts“, grinst er. Natürlich nicht, bekräftigt sich die Runde gegenseitig. „Stattdessen erzählt er uns immer wieder, daß er Kommunist ist“, meint einer verächtlich zu Gorbatschows Fernsehauftritt. „Unsere Interessen haben die in Moskau nicht begriffen“, kommentiert Dukan. Sie lassen ihn nicht ausreden. „Die wollen uns nicht verstehen, das ist doch Masche“, so ihr kategorisches Urteil. Umsomehr fühlen sie sich bestärkt, weiter zu streiken bis zum Rücktritt der Regierung. Mut macht, daß auch andere Betriebe an diesem Wochenende in Leningrad und Minsk zu streiken begannen.

„Was machen wir, wenn Jelzin uns auffordert, wieder an die Arbeit zu gehen?“ gibt einer zu bedenken. Er wirft die heikelste Frage auf. Noch spielt Jelzin mit dem Gewicht der Arbeiterschaft, um seine Position auszubauen. Doch das kann sich rasch ändern. Die Meinungen gehen auseinander. Gott sei Dank, vermittelt die Runde den Eindruck, ist es noch nicht soweit. Ein Teil kann sich vorstellen, Jelzin zu folgen, der andere will klare Verhältnisse. Erst wenn der Zentrale die Krallen gekappt sind, will er wieder an die Arbeit. Der wohl politischste Kopf warnt davor, wieder einem Führer zu folgen: „Wir haben unsere eigenen Hände, wir brauchen Jelzin nicht.“ Für ihn fängt der Streik jetzt erst an.

Die Bevölkerung der 200.000-Menschen-Stadt unterstützt die Bergleute. Viele Bewohner leben in erbärmlichen Verhältnissen. Nicht etwa, weil ihnen das Geld fehlte. Nein. Finanziell gehören sie sogar zu den Bessergestellten. Als Arbeiter im hohen Norden erhalten sie eine „Polarzulage“. Nach fünf Jahren macht sie immerhin 180 Prozent des Tariflohnes aus. Es fehlt aber am Elementarsten. Noch immer hocken Zigtausende in kleinen Holzhäusern, windschiefen Hütten, die aus der Gründerzeit stammen. Manchmal vier Familien in einem Haus auf engstem Raum, ohne Kanalisation oder fließendem Wasser. In den 30er Jahren war Workuta eines der berüchtigsten Straflager des Archipel Gulag. „Dabei“, meint Sascha verbittert, „liegt unter jeder Eisenbahnschwelle, die zu uns führt, eine Leiche.“

Die Zeche „Promeischlennost“ ist in Workuta ein Sonderfall. Sie wird nicht bestreikt. Ihre Arbeiter erhielten vom Ministerium die Erlaubnis, einen Teil der geförderten Kohle auf eigene Rechnung zu verkaufen. Ähnliches schwebte den anderen Gruben eigentlich auch vor. Jetzt ist es ihnen schon zu wenig und sie äußern sich verächtlich über die „Streikbrecher“. „Man hat dem Hund einen Knochen vorgeworfen...“ rümpft Sascha die Nase. Prognosen über einen Erfolg des Streiks will er lieber nicht abgeben.