Ich bin ein geborener Dieb

In Jim Sheridans neuem Film „Das Feld“ spielt John Hurt einen Dorftrottel Ein Porträt des Schauspielers  ■ Von Gunter Göckenjan

Ich bin kein Star“, sagt der englische Schauspieler John Hurt (51), und es klingt wie: „Ich trinke keinen Tee.“ Nur zum Teil ist seine Selbstbeurteilung englisches Understatement. Zwar wird John Hurt gehandelt, behandelt und bezahlt wie ein Star, doch fehlt der Personenkult um ihn. Sieht man ihn auf der Leinwand, fragt man sich nicht sofort, wie hat er das nur gemacht: Oft erkennt man ihn gar nicht. Er scheint sich restlos in seine Charaktere zu verwandeln.

Hurt wählt seine Rollen nicht nach ihrem Sympathiewert für den Zuschauer. In Das Feld (Regie: Jim Sheridan) zum Beispiel, seinem neuen Film, spielt John Hurt einen Dorftrottel und -säufer mit debilem Grinsen und servilem Verhalten. Kein Identifikationsangebot, aber eine Verkörperung, so überzeugend, als habe man ihn gerade vom Anger eingefangen.

In München, in seiner Suite im Hotel „Vier Jahreszeiten“, präsentiert sich Hurt als verschmitzt-charmanter Gesprächspartner, der, wie es scheint, die Rolle seines jüngsten Films noch etwas nachklingen läßt, eine für ihn typische Eigenart, wie auch sein Biograph berichtet (David Nathan, John Hurt, London 1986). Nach den Dreharbeiten zu Champion (Regie: John Irving), in dem er einen krebskranken Jockey spielte, habe er eine Freundin getroffen, die ihn kaum mehr wiedererkannte: „Er war wie dieser Mann geworden, der hoffnungslos an Krebs erkrankt war. Und er sah ein bißchen aus wie einPferd.“ Und Jonathan Sanger, Produzent bei Der Elefantenmensch: „Er hatte so sehr die Eigenschaften von Merrick angenommen, daß wir das Gefühl hatten, mit der Person zu arbeiten, nicht mit dem Schauspieler.“

Seine Schauspielkunst beschreibt Hurt so: „Ich bin ein geborener Dieb. Ich muß nur warten, manchmal eine lange Zeit, bis ich brauchen kann, was ich gestohlen habe ... Ich habe schon früh gelernt, ein Dieb zu sein, als ich Peter O'Toole das erstemal traf. Wir haben viel über Diebstahl geredet, weil auch er ein großer Dieb ist, aber er hat jetzt einen derart eigenen Manierismus entwickelt, daß da nichts mehr von ihm zu stehlen ist.“ „Dieb zu sein“, ergänzt er, „bedeutet schließlich, etwas verstanden zu haben.“ Sofern man nicht unbewußt klaut. „Besonders bei Musikern kommt das oft vor. Ich kenne George Harrison sehr gut. Er hat ein paar Songs geschrieben ... Er hat keine Ahnung, daß er die Melodien gestohlen hat.“

Schauspielerei sei doch keine Arbeit, scherzt Hurt dann: „Es gibt Momente, in denen man plötzlich feststellt, daß man den Regisseur nicht ertragen kann, die Hauptdarstellerin nicht leiden und den zweiten Darsteller nicht riechen kann, und dann muß man noch zehn Wochen mit ihnen aushalten. Man fühlt sich plötzlich wie in der Schule.“

Einige Male schon hat er diese Erfahrung gemacht: „Ich hatte nicht viel Glück mit den Filmen, die ich in Hollywood gemacht habe. Ich hatte einen Regisseur (Cimino), der dachte, er sei Napoleon; einen Regisseur, der seinen ersten Film drehte, während er viel mehr an Fernsehen interessiert war (James Burrows, Zwei irre Typen auf heißer Spur) und Sam Peckinpah ... Er war ein Diktator.“ Unter Peckinpahs Regie, es war dessen letzter Film, entstand Das Osterman Weekend, eine Agentengeschichte über die Manipulationsmöglichkeiten moderner Medien, mit Burt Lancaster, Rutger Hauer und John Hurt.

Bei der Frage nach Michael Cimino und der Arbeit zu Heaven's Gate kommt John Hurt in Fahrt: „Es ist keine Freude, achtzig Takes aufzunehmen! Schlechter aber als für die Schauspieler ist Cimino für seine Produzenten: Er läßt die achtzig Takes nämlich auch noch alle entwickeln.“ United Artists ging an Ciminos 42-Millionen-Dollar-Werk pleite. Der Drehort sei wie ein Armeelager organisiert gewesen, und der oberkommandierende Regisseur habe den Spitznamen Ayatollah bekommen. Nach einem Streit meinte Cimino: „Du mußt dich an die Tatsache gewöhnen, daß dies ein großer amerikanischer Film ist, und er ist typisch.“

„Ich habe während einer Drehpause zu Heaven's Gate mit David Lynch Der Elefantenmensch gedreht, in 14 Tagen. Danach haben wir noch den Prolog zu Heaven's Gate nachgedreht. Die fünf Tage für den Prolog haben so viel Geld gekostet wie der gesamte Elefantenmensch.

Wie so oft, und manchmal waren es seine besten Rollen, haben ihm Freunde und Agentin vom Elephant Man abgeraten; unter einer schauerlichen Maske sollten nur sein Mund und seine Augen zu sehen sein. Doch Hurt war vom Script und vom Regisseur Lynch überzeugt (er schwärmt noch heute von dessen erstem Film Eraserhead). Er erkämpfte sich drehfrei von Cimino. „Es war wie aus dem Gefängnis zu entkommen.“ Ein Streik des Flugpersonals hätte beinahe noch alles verhindert, aber er charterte sich eine Maschine mit dem Musiker T-Bone Burnett, um noch rechtzeitig nach L.A. zu kommen. Ein großer Aufwand für die Hauptrolle in einem Low-Budget- Film. Augenzwinkernd kommentiert Hurt: „Ich bewundere David Lynch, ich liebe ihn sogar, weil er mich den besten Schauspieler der Welt nannte.“

Pauline Kael schrieb über John Hurts Darstellung des Elefantenmenschen, es sei ihm gelungen, in uns Reaktionen hervorzurufen „auf seine schnaufenden, ächzenden Geräusche und seine verängstigten Bewegungen, so daß wir nicht alleine die Deformationen sehen, wir sehen die hilflose Person, gefangen in dem abstoßenden Fleisch ... Hurt macht aus Merrick einen erstaunlichen Gentleman mit sanfter Seele, indem er seine verzerrten Lippen und seine Augen, doch vor allem seine Stimme und seine Haltung und Bewegungen einsetzt ... Der Film weckt in uns das Verständnis dafür, daß in einer Zeit, in der man glaubte, daß Häßlichkeit von innen kommt, Merrick ein Dandy der Seele werden mußte, um sich wie ein Mensch zu fühlen.“

International bekannt wurde Hurt durch seinen Part in The Naked Civil Servant (Wie man sein Leben lebt, 1975), in dem er Quentin Crisp, eine starke, selbstbewußte Emanzipationstunte spielte. John Hurts Spezialität ist die Darstellung verletzter, leidender oder exzentrischer Personen: In Midnight Express (Alan Parker, 1978) verkörperte er einen drogensüchtigen Gefängnisinsassen. Er gewann für diese Darstellung den „Golden Globe“ und wurde für einen „Oscar“ nominiert. In Scandal (Michael Caton-Jones, 1989), der Verfilmung der Profumo/Keeler-Affäre, ist er der unsympathische, schmierige Dr. Ward, der, als Freund der Keeler, zum Sündenbock der Politik-Prostitutions-Posse gemacht wurde. Er war der intelligente, verschrobene Großgrundbesitzer Colville in Die letzten Tage in Kenia (1988) von Michael Radford, unter dessen Regie er in 1984 (im gleichen Jahr) auch den Winston Smith spielte. Mit Stephen Frears drehte er dessen ersten Kinofilm The Hit (1983), an den er sich gerne erinnert: „Stephen Frears hat mich sehr amüsiert. Er sagte Sachen wie: ,Was würde ein richtiger Regisseur hier tun, jemand wie John Irving zum Beispiel?‘ Steven ist das Gegenteil eines cinematographischen Architekten, er entwickelt seine Ideen erst bei der Arbeit. Fred Zinneman ist auch so einer, der ein vollständiges Konzept ausgearbeitet hat. Auch das kann sehr angenehm sein, weil man sich bei ihm in Sicherheit fühlt.“

John Hurt ist mehr als ein Berufsschauspieler, er ist Filmenthusiast, und er hat die Erfahrung gemacht, daß nur wenigen Regisseuren mehr als ein guter Film gelingt: „Film ist wie Englisch: eine extrem leichte Sprache, wenn man sie schlecht spricht, und eine extrem schwierige Sprache, will man sie gut sprechen.“ Und: „Heute gibt es nur zwei Regisseure in Amerika, die immer wieder fantastische Filme machen, das sind Scorsese und Woody Allen.“

Man sieht es John Hurt an, daß er auch ein intensives Leben jenseits der Leinwand führt, und er scheint auch hier mit der Rolle des Verletzten, Verletzlichen zu kokettieren: „Mein Leben ist kein Dahingleiten in Eitelkeit. Ich lebe mutig. Wenn etwas schiefläuft, muß ich von vorne anfangen. Viermal habe ich das gemacht. Ich hatte einige schmerzhafte Scheidungen, die alles, was ich besaß, gekostet haben: das letzte Mal ungefähr drei Millionen Dollar, aber ich würde mir auch nicht weiter trauen, als man spucken kann.“

Dann kommt die Nachricht, daß zwei Frauen vor der Tür auf ihn warten, und sofort spielt er seine ironische Don-Juan-Nummer. Mit breitem Grinsen und einem „Fuck off“ schiebt er mich aus dem Zimmer. Star oder nicht, Show muß sein.

Jim Sheridan: The Field, mit Richard Harris, John Hurt, Tom Berenger, Irland 1990, 110 Min.