In dubio pro nucleo

■ Das Bundesverfassungsgericht zwingt Niedersachsen zur Auslegung der "Schacht-Konrad" Unterlagen

In dubio pro nucleo Das Bundesverfassungsgericht zwingt Niedersachsen zur Auslegung der „Schacht-Konrad“ Unterlagen

Die Karlsruher Richter sind im Bund-Länder- Streit um das Atommüllager „Schacht Konrad“ bei Salzgitter ihrem Ruf voll gerecht geworden. Das bedeutet seit den frühen Auseinandersetzungen um den Schnellen Brüter: In dubio pro nucleo. Praktisch bedeutet der höchstrichterliche Spruch, daß der Bonner Oberaufseher in Sachen Atomenergie störrische Länder auch mit Weisungen malträtieren kann, die möglicherweise oder wahrscheinlich rechtswidrig sind.

Das genau könnte den Etappensieg Töpfers früher oder später in einen Pyrrhus-Sieg verwandeln. Denn daß für derartige Projekte wie das Atommüll- Grab in Niedersachsen eine Umweltverträglichkeitsprüfung zwingend wäre, scheint trotz des Karlsruher Spruchs wenig umstritten. Der Bundesumweltminister hat souverän darauf verzichtet. Umweltverträglichkeitsprüfung bedeutet nicht eine erneute Überprüfung der Sicherheit, sondern eine Abschätzung und Bewertung der Auswirkungen einer „ordentlich“ betriebenen Anlage — beispielsweise die Strahlenbelastung der Bevölkerung entlang der Transportstrecken des strahlenden Mülls. Selbstverständlich werden sich Betroffene finden, die gegen den vom Bundesverfassungsgericht freundlicherweise genehmigten Verfahrensmangel klagen. Der Rechtsstreit wird die Verwaltungsgerichte beschäftigen, voraussichtlich bis zur letzten Instanz. Und die sitzt in Berlin und nicht in Karlsruhe. Die Bundesverwaltungsrichter in der Neu-Hauptstadt haben 1988 den Reaktor von Mülheim-Kärlich kassiert und auch im Kalkar-Streit eine atomkritischere Position bezogen als ihre Karlsruher Kollegen. Deshalb hatte Niedersachsen sich an sie gewandt, um der Bonner Weisung zu entgehen. Daß Karlsruhe die bereits anberaumte Sitzung des Bundesverwaltungsgerichts nicht abwartete, sondern Töpfers Entscheidungsbegehren in ungewöhnlich beflissener Eile nachkam, bedeutet einen offenen Affront. Er mag die Berliner Richter zusätzlich motivieren, sich der Materie ernsthaft zu widmen — wenn ihre Stunde gekommen ist.

Ziel der Töpferschen Weisung in Richtung Rot- Grün war es, die drohende „Kalkarisierung“ der niedersächsischen Endlagerprojekte im Keim zu ersticken. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß sich die Kalkar-Geschichte wiederholt. Merke: Ein Richterspruch macht noch kein Endlager. Gerd Rosenkranz/Jürgen Voges