Dekret und Dauerkrise

■ Gorbatschows neuester Maßnahmenkatalog in der Endlosschleife

Dekret und Dauerkrise Gorbatschows neuester Maßnahmenkatalog in der Endlosschleife

Jeden Tag vermelden die Nachrichten den nunmehr endgültig bevorstehenden Zusammenbruch der Sowjetunion: Teilrepubliken kündigen den gemeinsamen Staatsverband auf, konservative Kommunisten proben (vergeblich) den Sturz des mächtigen russischen Präsidenten Jelzin, die sowjetische Regierung versucht (ebenso vergeblich) mit einem Massenaufgebot an Sicherheitskräften, Kundgebungen demokratischer Gruppen in Moskau zu verhindern. Streiks erschüttern die ohnehin marode Wirtschaft, und sie sind immer öfter mit der Forderung nach dem Rücktritt von Staatschef Gorbatschow verknüpft. Man könnte geneigt sein, sich darüber zu wundern, daß es die Sowjetunion überhaupt noch gibt.

In anderen Ländern hätte jede einzelne dieser dramatischen Konflikte für einen tiefen Einschnitt in das politische Leben gesorgt. Nicht so in der UdSSR: Hier scheint die Nicht-Entscheidung zur höchsten Form der Staatskunst erhoben worden zu sein, ein — wenn auch gequältes — Sich-Einrichten im Dauerzustand der Krise.

Das jetzt von Gorbatschow vorgelegte „Antikrisenprogramm“ legt davon beredtes Zeugnis ab. Es verheißt zwar den Übergang zu einer „sozial orientierten Marktwirtschaft“, enthält aber bei näherem Hinsehen kaum mehr als eine Auflistung von Maßnahmen zur Bewältigung einer Unzahl verschiedenster Probleme. Ein vorläufiges Streikverbot steht da etwa neben der Verpflichtung von Wehrdienstleistenden und Rentnern für den Ernteeinsatz in ländlichen Regionen, die Förderung von ausländischen Investitionen neben dem Verkauf staatlicher Wohnungen. Jede einzelne dieser Maßnahmen mag — für sich betrachtet — sinnvoll sein, nur fügen sie sich noch lange nicht zu einem durchdachten Gesamtkonzept.

Im schillernden Gegensatz dazu hat sich Gorbatschow außenpolitisch als Mann für neues Denken erwiesen, das der UdSSR inzwischen ein gewaltiges Stück Normalität auf dem internationalen Parkett beschert hat. Gorbatschows Dilemma besteht darin, daß die Unterstützung des kapitalistischen Westens kein Pfund ist, mit dem er innenpolitisch wuchern kann.

Die Dauerkrise in der Sowjetunion kann nur in einem demokratischen Sprung nach vorn, in der freilich mühseligen Herstellung eines politischen Konsenses, über einen einsichtigen und begründeten Generalplan zur Umstrukturierung der Sowjetunion bewältigt werden. Die Voraussetzungen dafür hat Gorbatschow mit der Perestroika selbst gelegt. Nun muß er sie entschieden nutzen. Es gehört zur historischen Dialektik des gegenwärtigen Prozesses, daß sich gerade die demokratischen Teile der Bevölkerung seiner kurzatmigen Politik der Maßnahmenkataloge entgegenstemmen. Heute lassen sich Bergarbeiter nicht mehr per Dekret in die Gruben schicken oder Republiken an die Kette legen. Ojars J. Rozitis