Schwierige Abrechnung mit der Vergangenheit

Debatte in der CSFR um die Enthüllung von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit/ Zweifel an den Ergebnissen der Untersuchungskommission zur Überprüfung der Stasi-Vergangenheit von Parlamentariern  ■ Aus Prag Sabine Herre

Nicht nur live, sondern auch in einer samstäglichen Reprise konnte das tschechoslowakische Fernsehpublikum eine öffentliche politische Hinrichtung verfolgen. In der Prager Föderalversammlung wurden die Namen von zehn Abgeordneten, denen eine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst Stb vorgeworfen wird, verlesen — durch das Land wehte der Geist der amerikanischen McCarthy-Ära. Eine erneute Überprüfung der Abgeordneten, die eine Kommission bereits vor den Parlamentswahlen im Sommer des vergangenen Jahres durchleuchtet hatte, schien unumgänglich, nachdem im Herbst neue Archivmaterialien entdeckt worden waren. Einstimmig festgesetzt wurde ein Termin, bis zu dem die in diesen Registern Aufgeführten ihr Mandat ohne Bekanntwerden ihres Namens niederlegen konnten. Was jedoch mit all denjenigen geschehen sollte, die zu diesem Schritt nicht bereit waren, darüber wurde lang und heftig diskutiert. Daran, daß auch ehemaligen Mitarbeiter des Stb vor einer Verurteilung das Recht auf öffentliche Verteidigung eingeräumt werden müsse, dieses jedoch durch eine öffentliche Namensnennung stark eingeschränkt werde, erinnerten in erster Linie diejenigen, die selbst zu den Opfern der Überwachung duch den Stb gehört hatten. Anhand konkreter, tragischer Beispiele machten sie deutlich, daß manch einer vom Stb erpreßt und so zur Zusammenarbeit gezwungen worden war.

Die überwiegende Mehrheit der Politiker vertrat dagegen die Ansicht, daß nur eine möglichst weitgehende Öffentlichkeit das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen wiederherstellen könne. Neben dem Recht auf Verteidigung existiere auch das Recht auf Information. Besonders die Mitglieder der Untersuchungskommission, diejenigen also, die über die einzelnen „Fälle“ am ausführlichsten unterrichtet waren, verkündeten trotzig, daß sie nicht bereit seien, mit den ehemaligen Mitarbeitern des Stb weiterhin in einem Parlament zusammenzuarbeiten. Deshalb solle ein Gesetz verabschiedet werden, das erlaubt, Abgeordnete von ihrem Mandat zu entheben.

Schließlich gab es in der Diskussion jedoch auch einen Meinungsstrang, der derzeit in jeder tschechoslowakischen politischen Auseinandersetzung auftaucht. Ihre Vertreter suchen die einfachen Lösungen; den Kern der Kontroverse, den Konflikt zwischen zwei Menschenrechten, nehmen sie so nicht wahr. Im Namen der unzähligen Opfer des real-sozialistischen Systems wird eine uneingeschränkte Abrechnung mit den Tätern gefordert. Eine Veröffentlichung der Namen aller 150.000 Stb- Mitarbeiter käme auch den Wünschen breiter Kreise der Bevölkerung entgegen. Angesichts von wachsender Arbeitslosigkeit und Preiserhöhungen befinden sie sich ständig auf der Suche nach „Schuldigen“. Von „Vergebung“ und „Verzeihung“ wollen sie nichts hören.

Während vier Parlamentarier von der Möglichkeit des „stillen Rückzugs“ Gebrauch machten, wiesen die zehn nun öffentlich an den Pranger Gestellten die gegen sie erhobenen Vorwürfe entschieden zurück. Charta-Unterzeichner Peter Burian: „Ich habe niemals mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet, es existiert kein Brief, kein Material, das meine Tätigkeit als Geheimagent bestätigen könnte, in das Register bin ich ohne mein Wissen gelangt.“ Die Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe habe er bereits vor drei Monaten gefordert. Bis heute sei jedoch weder vom Immunitätsausschuß des Parlaments noch von der Untersuchungskommission eine Nachricht gekommen. Auf welch unsicherer Grundlage die erhobenen Anschuldigungen basieren, macht auch der „Fall“ Jan Kavans deutlich. Kavan, der in den vergangenen zwanzig Jahren einer der führenden Vertreter des tschechoslowakischen Exils in England gewesen war, erklärte, daß die Angestellten der Londoner Botschaft der CSFR in den Jahren seines Studienaufenthaltes in den Jahren 1969-70 „seine Informationen ohne sein Wissen“ ausgenützt hätten. Zu keinem Zeitpunkt habe er für den Stb gearbeitet. Für den Beweis seiner Unschuld gebe es mehrere in- und ausländische Zeugen, diese seien von der Untersuchungskommission jedoch nicht angehört worden. Statt dessen hätten ihr die Aussagen eines Stb-Agenten genügt. Welche „Informationen“ Kavan gegeben haben könnte, wurde in der Debatte nicht deutlich. Während viele ehemalige Dissidenten und Emigranten von der „Schuld“ Kavans überzeugt sind, beteuern andere nicht weniger überzeugt seine Unschuld. Die Kommission selbst war in ihrem Urteil so unsicher, daß sie sich erst am Abend vor der Parlamentssitzung mit der Mehrheit von nur einer Stimme für die „Enthüllung“ Kavans aussprach.

In Zweifel gezogen wurde die Arbeit des Untersuchungsausschusses aber auch von anderen, nichtbetroffenen Abgeordneten. Für den stellvertretenden Parlamentspräsidenten Jičinský ist das persönliche Vertrauen, das er in den letzten Jahren zu einem der Beschuldigten gewonnen hatte, für dessen „Beurteilung“ wichtiger als seine Aufführung in den Registern des Stb. M. Kocab vom Bürgerforum bezeichnete die Tatsache, daß ein Teil der beschuldigten Abgeordneten unschuldig sein könnte, als „moralisches Debakel des Parlaments“. Nicht zum ersten Mal wurde auch die Befürchtung geäußert, daß ehemalige führende Mitarbeiter des Stb die ihnen zur Verfügung stehenden Akten geschickt zur Desinformation der Öffentlichkeit einsetzen. Sowohl Kavan als auch Burian kündigten an, ihre „Fälle“ von internationalen Organisationen untersuchen zu lassen.