Neue Hieroglyphen

■ »Finga Weck!« vom Atelier Zinnober im Rathaus Charlottenburg

Beute des Ägypten-Feldzugs Napoleons 1799 war unter anderem ein Stein, auf dem ein Text aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert in drei Sprachen und Schriften überliefert war — in Griechisch, in kursivem Demotisch und in ägyptischen Hieroglyphen. Dieser Dreisprachenstein wurde zum Schlüssel der Entzifferung der Hieroglyphen, deren Bildchen sich nach Jahrzehnten voller phantastischer Lesarten dem System der Buchstaben und bekannten Schriften als viel näherstehend entpuppten, als die Forscher angenommen hatten.

Auf einer Collage von Andreas Spichalla, LeserInnen dieser Seiten schon als ein Maler der Lappen in der Randspalte der Samstagsausgaben bekannt, taucht der Dreisprachenstein in einer Fotokopie auf, eingefaßt von vielfarbigen Fahnen. Whopperheißt das Bild auch noch, um die babylonische Sprachverwirrung im Kulturcocktail zu steigern. Darunter hängt sein Blatt vom »Musee Ethnographie«, abgeschrieben aus irgendeinem Faltblatt und zum Titel für eine Collage erkoren, zu der ihn der Besuch einer Ausstellung von einer jungen chinesischen Malerin im Haus der Kulturen der Welt anregte. Unter einem getüpfelten Stoffetzen versammeln sich kleine grüne Maskenmännchen, Herkunft vom Mars nicht ausgeschlossen. Es regnet Zettelchen mit chinesischen Schriftzeichen. Chinesisch kommen mir auch die Zeichen vor, die Andreas dazwischen geschrieben hat.

Wie jener alte Stein, so erscheinen mir die Zeichnungen und Collagen aus dem Atelier Zinnober als vielsprachige Texte, für die es mehr als eine Lesart gibt. Sven zum Beispiel nannte die dunklen Flecken, die er einem Titelblatt des 'Sterns‘ über dem Schriftzug »Russland« aufgedrückt hatte, einmal den Abdruck einer dicken Tatze, als wäre ihm der russische Bär übers Blatt getapst, und erklärte dann während des Golfkriegs die Flecken kurzerhand zu Bomben. Bilder und Buchstaben, die uns vertraut erscheinen, sind zu Texten einer anderen Syntax und Semantik zusammengesetzt. Im Versuch ihrer Entschlüsselung komme ich mir vor wie jene Ägyptologen, die das Geheimnis des Sprachensteins in nächtlichen Visionen lösten, die einer Überprüfung bei Tageslicht nicht standhalten konnten.

Für das Atelier Zinnober, in dem Menschen mit vorwiegend mentalen Behinderungen je einmal wöchentlich künstlerisch arbeiten, markiert die Ausstellung Finga Weck! den Abschluß einer ersten Arbeitsphase. Auf den Stellwänden in der monumentalen Charlottenburger Rathausarchitektur wirken die fragilen Blätter von Andreas und Martin, Sven und Rudolf, Wolfgang, Gülüzar, Moritz, Monika und Detlef klein und schüchtern. Henning Brandes, der das Projekt »Atelier Zinnober« initiierte, hat in diesem ersten Jahr die Stärken seiner Künstler erkundet. Nach der Arbeit am Tisch des engen Ateliers plant er für den Sommer eine großflächige und bewegungsintensive Installation im Freien; mit Martin Binder, dem »Computer-Gehirn« unter den Zinnoberartisten, steht eine Reise zum »elektronischen Planeten« an, wenn sich denn ein Computer-Kurs für ihn findet. Die Collagen und Combined Paintings in Buchform zu veröffentlichen, legt schon ein Blick in die jetzige Ausstellung nahe. Finanziell abgesichert ist bisher keines dieser Projekte.

Vertrauten Bildern ungewohnte Bedeutungen zu unterschieben und ihre Aussagen mit Witz umzukehren ist ein spezieller Trick der Zinnober- Künstler. Eine schnelle Zeichnung von Rudolf Xanke, dem Mann mit dem winkenden X, ist ausgerechnet auf einer Zeitungsseite mit Ausstellungsankündigungen von Museen und Galerien gelandet: wie ein Schutzengel schwebt Rudolfs x-förmiger Schemen über der eta-blierten Kunst. Martin übermalte in einer Zigarettenwerbung zwei Männer mit dicken Pinselstrichen, taufte sie »U.S. Sturz Kerle« und brachte damit die unterschwellige Aggressivität der Szene und die Dummheit ihrer Helden auf den Punkt. In einer anderen Collage versah er die Reproduktion eines Selbstporträts von Van Gogh mit einem Roboterkörper: gerade den Maler, der in unserer Kultur wie kaum ein anderer für das Umsetzen der subjektiven Leiden in eine individuelle Bildsprache steht, als mechanischen Funktionsapparat darzustellen wirkt wie eine kritische Reflexion der medialen Vermarktung von Subjektivität. In ihrem unbefangenen Umgang mit der Massenbildproduktion teilen die Behinderten Lesarten gegen den Strich mit.

Deutlich ist auf Martins Blättern auch die Zeit des Golfkriegs abzulesen. Da tauchen Controlcenter und Hubschrauber auf, Kreuze und Särge; die ausgeschnittenen Tiere sind auf der Flucht, Gesichter werden zugemalt und hinter Masken versteckt.

Henning Brandes, der im Atelier die unterschiedlichsten Materialien zur Verfügung stellte und Kombinationen von Mal- und Drucktechniken, von Fotokopien oder Computerdrucken auf jeder Art vorgefundenen Materials ermöglichte, sieht die Phase der Arbeit mit diesen unterschiedlichsten Bildsprachen als ausgereizt an.

Die Bilder aus Werbung, Politik, Kunst und Wissenschaft wurden als Zitate von Bereichen, deren reale Besetzung den Behinderten oft verschlossen sind, zum Untergrund ihrer Botschaften. Andreas selbst hat in einer Collage eine Landkarte durch diese Bildwelten erstellt. Im Zentrum klebt ein Stückchen eines topographischen Plans, von dem aus Linien zu Bildfetzen verschiedenster Herkunft führen: Die Kopie eines Personalausweises steht neben einer Kunstreproduktion, Computergraphik neben Ritzzeichnung. Doch damit man zwischen diesen ungleichzeitigen Bilder- Kosmen nicht in die Irre geht, sind die Künstler dienstags, mittwochs und donnerstags ab 15.00 Uhr in ihrer Ausstellung anzutreffen und zu zuverlässigen Führungen bereit. Katrin Bettina Müller

Finga Weck! Sammlung Atelier Zinnober, bis zum 20. April in der Vorhalle der Stadtbücherei Charlottenburg, Otto-Suhr-Allee 96.