Revolutionäre Stimmung in Minsk

Gestern marschierten Truppen auf/ In der belorussischen Hauptstadt herrscht im Streikkomitee eine Atmosphäre wie im Smolny 1917/ Gorbatschow erntet die Früchte des Zorns der Arbeiterklasse  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Die Feldfrüchte von Tschernobyl auf den Tisch der Regierung!“ Dies ist eine der Losungen, die am Donnerstag eine weitere Politisierung des Streiks in zahlreichen Großbetrieben der belorussischen Hauptstadt Minsk anzeigte. Hier sind die Folgen der Reaktorkatastrophe weiter gegenwärtig. „Von Stunde zu Stunde treten mehr Arbeiter in den Ausstand, schon jetzt sind auf dem Lenin-Platz mehr Menschen als gestern abend, wo es hundertfünzigtausend waren“, berichtete unserem Moskauer Büro gestern mittag telefonisch ein Mitglied des Minsker städtischen Streikkomitees, der Fahrer Grigorij Gwosdik. Inzwischen sind in den Straßen der Stadt Lastwagen mit Truppen des sowjetischen Innenministeriums aufgefahren.

„Ein kleines Zimmerchen, das die Belorussische Volksfront den Arbeitern abgetreten hat, Zigarettenqualm... Meldungen: In allen Unternehmen Belorußlands werden Streikkomitees gebildet... Die Atmosphäre des Smolny von 1917. Besser gesagt: eines Antismolny, denn diesmal, scheint es, haben die Arbeiter wirklich die Macht ergriffen“, schildert 'Moscow News‘ in seiner neuesten Ausgabe dieses Stabsquartier. In der ganzen belorussischen Republik hatten sich am Mittwoch 60 Betriebe dem Streik angeschlossen, darunter einige Giganten der Rüstungs- und elektrotechnischen Industrie. Die weißrussische Polizei und die Minsker Hochschulen erklärten ihre Solidarität mit den Streikenden. Am Mittwoch abend war eine der Hauptforderungen der Arbeiter erfüllt worden: 15 Minuten Fernsehsendezeit täglich.

Der Ausstand begann am 3. April nach Unruhen mit der Forderung „Für Marktpreise auch Marktlöhne“. Angesichts des Fehlens von Informationen über den Verstrahlungsgrad ihrer Lebensmittel erschienen den Minskern die Preiserhöhungen und die neue Mehrwertsteuer wie ein Hohn. Die Republikregierung kam ihnen mit reichlich bemessener Kompensationen entgegen. „Die Mittel dafür nimmt man einfach aus den Fonds unserer Unternehmen und letztlich sind wir wieder die Leidtragenden“, erklärte uns Gwosdik die dennoch ungebrochene Streikwelle. Und: „Die Leute können einer Regierung, die jahrelang die Folgen des Reaktorunfalls verschwiegen hat, nicht vertrauen“. In der Forderung, alle Überweisungen für das Unionsbudget einzustellen, kommt heute die Bewertung der Republikregierung als Statthalterregime Moskaus zum Ausdruck. Geheime und freie Wahlen auf der Basis eines Mehrparteiensystems, den Rücktritt der Regierung und der Gewerkschaftsleitung Belorußlands und die Verstaatlichung des Vermögens der KPdSU sind die anderen Forderungen, bisweilen noch ergänzt um den „Rücktritt Gorbatschows“.

Die relative Nachgiebigkeit der UdSSR-Zentrale gegenüber den belorussischen Arbeitern in materiellen Fragen erklärt sich unter anderem aus ihrem Interesse, sich in Gestalt der dortigen Machthaber einen konservativen Keil zwischen den aufmüpfigen Republiken der Russischen Föderation und der Ukraine zu erhalten. Anfang des Jahres war ein von Boris Jelzin inspirierter multilateraler Vertrag zwischen mehreren Sowjetrepubliken, als Alternative zu Gorbatschows Unionsvertrag, am Zögern der belorussischen Regierung gescheitert. „Wir wollen mit all unseren demokratischen Nachbarn gute Beziehungen haben und legen uns auf den politischen Rahmen unserer künftigen Zusammenarbeit nicht fest“, sagte uns Gwosdik dazu. Eine neue Aktion der „Volksdiplomatie“ hat inzwischen eine Gruppe von Abgeordneten der Bewegung „Demokratisches Rußland“ in das ukrainische Donbass-Gebiet geführt. In der Ukraine streiken gegenwärtig 57 Bergwerke, vier haben ihre Lieferungen eingestellt. Die Deputierten wollen auf Einladung der örtlichen Streikkomitees prüfen, was auf Republikebene getan werden kann, um einerseits die schlimmsten Folgen der Streiks für zur Versorgung der Bevölkerung lebenswichtige Betriebe abzuwenden, und andererseits die vom russischen Kongreß der Volksdeputierten als gerechtfertigt anerkannten Forderungen der Bergleute zu erfüllen. Weiteres Ziel ist die Gründung einer interrepublikanischen parlamentarischen Gruppe, die wirtschaftliche Fundamente für einen neuen Unionsvertrag ausarbeiten soll.

Angesichts dieser allseitigen Gesprächsbereitschaft darf der Präsident nicht zurückstehen. „Eine umfassende Dialogfreudigkeit“ Gorbatschows im Sinne eines „Runden Tisches“ hatte auf einer Pressekonferenz am Dienstag abend dessen Berater Schachnasarow verkündet: Der Präsident sei schon lange bereit gewesen, sich mit allen politischen Parteien an einen Tisch zu setzen, soweit diese die Konstitution anerkennten und keine Gewalt predigten.