Traum von einem industriellen Gartenreich

Immer mehr Dessauer müssen zum Arbeitsamt/ Die Stadtregierung hofft auf Arbeitsplätze in Industrie und Parkanlagen  ■ Aus Dessau Bernd Siegler

Lange Reihen von grauen, niedrigen Wellblechbaracken, daneben die Bahnlinie und das „Institut für Hygiene“. Dazwischen über fünfzig auf- und nebeneinandergestapelte Bürocontainer, kahle Betonwände und vereinzelte Osterglocken neben den Wegen. Wenn die Bahnschranke geschlossen ist, stauen sich die Menschen, die tagtäglich zu Hunderten an diesen unwirtlichen Ort pilgern. Eine Obdachlosensiedlung? Die tatsächliche Bestimmung steht auf einem leuchtendweißen Schild am Eingang: Arbeitsamt Dessau.

Die 100.000 Einwohner zählende Stadt Dessau in Sachsen-Anhalt, Sitz des gleichnamigen Regierungsbezirkes, liegt nur wenige Kilometer vom Chemiekombinat Bitterfeld entfernt, dem wohl giftigsten Betrieb der ehemaligen DDR. Obwohl das Arbeitsamt nur eines von insgesamt achtunddreißg in den fünf neuen Bundesländern ist, wird es bei der monatlichen Arbeitslosenbilanz jedesmal erwähnt. „Wir sind die einzige Behörde, die im Osten wirklich funktioniert“, pflegt der Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit Heinrich Franke zu sagen — nach einer rhetorischen Pause fügt er hinzu: „und das unter denkbar schwierigsten Bedingungen“. „Fahren Sie doch mal nach Dessau“, lautet seine simple Beweisführung: Dort werde in Baracken im Dreischichtdienst rund um die Uhr und auch an Wochenenden gearbeitet.

In der Tat schufteten die Angestellten im Dessauer Arbeitsamt bis Ende März im Dreischichtbetrieb. Jetzt ist die Umstellung auf EDV abgeschlossen und nur noch jeden zweiten Samstag wird eine Extraschicht gefahren. „Wir wissen, welche Pflichten wir gegenüber den Bürgern haben“, betont Sabine Edner den Arbeitseinsatz. Sie ist mit 30 Jahren die jüngste Arbeitsamtsdirektorin in den fünf neuen Bundesländern. Vor der Wende war sie im städtischen Dezernat für Handel und Versorgung mit der Zuteilung von Waren betraut. Dann wechselte sie ins Amt für Arbeit, dem Vorgänger des Arbeitsamtes. Ein vom damaligen Runden Tisch ausgesprochener Mißtrauensantrag gegen ihre Vorgängerin eröffnete ihr den Weg an die Spitze der Behörde. Freimütig bekennt Sabine Edner, daß ihr die Arbeit viel Spaß bereitet und sie „keinen Tag missen“ möchte.

Und das, obwohl die Arbeitslosenzahlen in ihrem Bezirk unaufhörlich steigen — wie überall im Osten. 12.116 Arbeitslose waren es Ende März — das entspricht einer Quote von 7,7 Prozent. Damit liegt Dessau zwar unter dem Schnitt der Ex-DDR, doch über 37.000 Kurzarbeiter, viele davon auf „Null“, sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie mickrige 456 erfolgreiche Vermittlungen. Und bis zum 30. Juni sind zusätzliche 11.000 Entlassungen angezeigt.

Der noch aus SED-Zeiten stammende Fremdenverkehrsprospekt Dessaus schmückt sich mit den VEB Waggonbau, Maschinenfabrik, Zementanlagenbau, Gas- und Elektrogeräte, Magnetband, Gärungschemie und dem Reichsbahnausbesserungswerk „Otto Grotewohl“; sie alle rühmen sich dafür, ausschließlich für den Markt im Osten ausgelegt zu sein. Doch der ist nach der Währungsunion total zusammengebrochen. Als überlebensfähig schätzt Klaus Römer, Öffentlichkeitsreferent des FDP-Oberbürgermeisters Jürgen Neubert, nur den Waggonbau und das Reichsbahnausbesserungswerk ein.

Doch die Stadt Dessau sieht ihre Zukunft nicht als reine Industriestadt. Den Planern schwebt ein „industrielles Gartenreich“ vor dem inneren Auge. „Aus der sehr schwierigen Industrielandschaft und der großartigen Kulturlandschaft“ soll, so der Regierungspräsident Hoffmann, „eine harmonische Einheit“ entstehen. Die ursprüngliche Auenlandschaft zwischen Elbe und Mulde, die schon im 18. Jahrhundert von Fürsten und Herzögen zu einer großangelegten Parklandschaft umgestaltet wurde, und die Kulturschätze (Bauhaus) sollen den Touristenstrom ankurbeln. „Wie ein Vorüberrauschen eines leisen Traums“ hatte schon Goethe 1778 die Landschaft beschrieben. Dessau wurde im Zweiten Weltkrieg zu 84 Prozent zerstört, aber im Gegensatz zu anderen DDR-Städten wurde vieles wieder aufgebaut.

Doch bis das ehrgeizige Zukunftsprojekt verwirklicht ist, werden die Arbeitslosenzahlen noch klettern. Das weiß auch Arbeitsamtsdirektorin Edner. Ihr Ziel ist, vorerst sicherzustellen, daß die ArbeiterInnen den Umgang mit der Arbeitslosigkeit in gewohnter Umgebung erlernen, und zwar an ihrem Arbeitsplatz. Darum gehen MitarbeiterInnen des Arbeitsamtes in die Betriebe, sobald Massenentlassungen angezeigt werden. Dabei denkt Sabine Edner durchaus auch pragmatisch: „Sonst holen wir uns die Massen ins Amt“. Für die „Massen“ ist im Amt kein Platz. Das Wartezimmer für die Arbeitsvermittlung mißt nur sechzehn Quadratmeter und ist täglich überfüllt. Viele müssen bei jedem Wetter draußen warten. Die Beratungsräume sind kleiner als Gefängniszellen, die Türen knarren und quietschen. Bei den dünnen Zwischenwänden hört jeder alles: den Weinkrampf von Frauen oder die lauten und aggressiven Töne der Männer. „Am Tiefpunkt“ sei die Stimmung in der Bevölkerung angelangt, bekennt Sabine Edner, Hoffnungslosigkeit schlage leicht in Aggressivität um. Zu Übergriffen sei es in Dessau jedoch bislang noch nicht gekommen. Nur einmal habe ein Arbeitsloser versucht, in die Zahlstelle einzudringen. „Wir dürfen als Ansprechpartner nicht den Kopf in den Sand stecken“, gibt die Direktorin als Devise für ihre 75 Mitarbeiterinnen (Frauenanteil 80 %) aus.

Den beiden Arbeitsberaterinnen Jutta Kohlheim und Gertrud Winkler fällt es angesichts des Ansturms und der Einzelschicksale manchmal schwer, sich „zusammenzureißen“. „Wir müssen bei der Beratung Mut machen.“ Dazu bräuchten sie eine „optimistische Ausstrahlung“ — doch das ist nicht immer leicht. Ihre Beratungstermine sind bis Ende Juli ausgebucht und meist reicht eine dreiviertel Stunde nicht aus. Vom Arbeitsamt, oft die erste behördliche Anlaufstation, erwarten viele eine „allgemeine Lebensberatung“.

Trotz der täglichen Erfahrung ist für die Arbeitsamtsdirektorin der wirtschaftliche Aufschwung in der Ex-DDR „nur eine Frage der Zeit“. Sabine Edner gibt zu, daß sie sich die Wende nicht so vorgestellt hat: Zwar hatte sie mit der Vernichtung von vielen Arbeitsplätzen gerechnet, aber das tatsächliche Ausmaß hat sie dennoch überrascht. „Ich bin nicht der Typ, der so schnell in ein Tief kommt“, wischt sie dann aber die Zweifel an ihrem Optimismus schnell vom Tisch.