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Leben im Potemkinschen Dorf

■ Husemannstraße in Prenzlauer Berg

Prenzlauer Berg. Es bestehen viele Möglichkeiten, in dieser Straße geweckt zu werden. Ein Junge fährt mit seinem Roller gegen die Wand und jault auf, die Mutter brüllt aus dem Fenster, daß er verdammt noch mal aufzupassen hat, so früh am Morgen, oder die Müllabfuhr kommt. Die kommt natürlich überall, aber hier haben die Männer während der Diktatur des Proletariats genug Stolz gebunkert, um auch noch in den nächsten vierzig Jahren laut polternd die Metallcontainer über den Hof zu rollen und so allen Nichtproleten das Schlafen mit dem Hohelied der Arbeit zu verleiden. Doch schlimmer als die Müllmänner sind die alternativen Reiseführer, denn die streiken nie, sind auch nicht stolz und ziehen mit einer impertinenten Regelmäßigkeit und Scharen von Altbundesbürgern durch diese Straße, als wäre sie die von Babylon. Aber vielleicht war auch Babylon nur ein Potemkinsches Dorf so wie die Husemannstraße seit mehr als vier Jahren.

Angefangen hat alles am Beginn der Achtziger. Da begriff auch das Team um Erich Honecker, daß mit dem Bau von Neubaugebieten vielleicht das Wohnungsproblem gelöst werden kann [nur ein böser Kommunistentrick, um uns riesige Sanierungsgebiete aufzuhalsen, säzzer], aber im Kampf um das wahre und einzige Berlin kein Blumentopf mehr zu gewinnen sei. Die 750-Jahr- Feier stand vor der Tür, und der Dachdecker aus Wiebelskirchen schwor allen kommunistischen Idealen einer funktionalistischen Architektur ab. Verbittert beendete deren wichtigster DDR— Theoretiker, Lothar Kühne, sein Leben in der Ostsee. Doch nicht ohne vorher mit Heiner Müller zu mahnen: »In der Zeit des Verrats sind die Landschaften schön.« Vergeblich: die Dinge nahmen ihren Lauf; Ornament und Verbrechen, die spießige Politbüro-Ästhetik verließ die Wandlitzer Wohnstuben und feierte im Osten Berlins fröhliche Urstände: ein Bogen hier, ein Schnörkel dort. Das Nicolaiviertel entstand, und aus der halben Husemann, den 200 Metern in Prenzlauer Berg, zwischen Kollwitzplatz und Sredzkistraße, wurde eine DEFA-Kulisse zum Wohnen und ein Muß für jeden Reisebus.

Fünf Jahre später stehen noch immer die Bauwagen im Kiez und in der »Restauration 1900« die Touristen, die am Morgen von ihren Führern hörten, daß sich hier in der Nacht die bärtigen Revolutionäre mit den jungen Künstlerinnen paaren. Sicher wohnt im Umkreis von einem Kilometer der halbe November 1989, und wenn du Glück hast, greift sogar eine nach Terpentin stinkende Hand nach deinem Feuerzeug, doch die Husemannstraße ist aller Jubiläen, Um- und Aufschwüngen zum Trotz ohne Eitelkeit und eher kleinbürgerlich. Nur die hiesige Wohnungsbaugesellschaft scheint davon nichts zu wissen.

Detlef Backe, der Wirt der »Budike Nr. 19«, zahlt statt früher 778 inzwischen 3209 DM Kaltmiete, und der erste Bote der Marktwirtschaft ist inzwischen auch wieder abgezogen: Der Drogerie, die sich im Juli der drospa-Kette unterwarf, hat der Kniefall nichts genutzt. Jetzt sind die Rollos runter und der grüne Schriftzug wieder abmontiert. Viele andere Läden wechseln immer öfter Angebot und Besitzer, nur die vom Konsum scheinen durchzuhalten. Der Rest zeigt trotzig Individualität. Magrid's Bistro, Olaf und Marions Cafestübchen, Druckerei Schädlich und ein paar Straßen weiter schließlich die Krönung der wiedergewonnenen Freiheit: Fisch und Salate Micha.

Wie schrieb Kühne: »Der Kommunismus ist die überwundene lokale Borniertheit der Individuen durch ihre weltgeschichtliche Verwirklichung.« Und davon ist inzwischen auch in der Straße des im Jahre 1943 in Plötzensee hingerichteten Husemann nichts mehr zu spüren. André Meier

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