TIEFDEUTSCHE RUHE

■ Notizen aus der norddeutschen Inselprovinz

Notizen aus der norddeutschen Inselprovinz

VONFrankSchüre

Als ich in Puttgarden den Zug verlasse, regnet es in Bindfäden. Außer mir ist niemand ausgestiegen, und so stehe ich allein in der mürrischen Geschäftigkeit der Zugabfertigung. Hundert Meter weiter enden die Gleise abrupt am Wasser, und ein Dutzend Meter darüber verläuft der schlauchartige Glasgang, durch den die Reisenden in das Fährschiff gelangen. Schon leicht durchnäßt stapfe ich zur Bushaltestelle und entziffere durch das beschlagene Sichtglas, daß der Bus hier alle zwei Stunden hält. Da ich noch nie ein großer Glückspilz beim Erwischen öffentlicher Verkehrsmittel gewesen bin, habe ich jetzt kanpp zwei Stunden Zeit und keine andere Wahl, als diese in der typischen Bahnhofsgaststätte zu verbringen.

Der Reiz der meisten Inseln findet sich für den Urlauber in ihrer Lage. Abseits vom Durchgangsverkehr, der wie nichts anderes an die Hektik der Alltagsmühle erinnert, war das sogenannte „Eiland“ immer schon ein Sinnbild für selige und geruhsame Abgeschiedenheit. Je näher sich ein solches Eiland jedoch am Festland befindet, desto gefährdeter ist sein Inselcharakter. Gerät die Insel gar in greifbare Nähe, so ist es um ihre Vorzüge geschehen. Die gierigen Landmassen erheben sofort Nutz- und Besitzrecht, und im Extremfall koppeln sie sich gar direkt und dauerhaft an. So geschehen bei einer Insel, die auf Wurfnähe vor der norddeutschen Ostseeküste liegt und dort die Kieler von der Lübecker Bucht trennt.

Die Rede ist von Fehmarn, einem Eiland, welches das doppelte Pech einer greifbaren Festlandsnähe hat. Gleichsam auf halbem Wasserwege zwischen Schleswig-Holstein und dem dänischen Lolland, ist Fehmarn unaufhaltsam zur Zwischen- und Umladestation für den Verkehr zwischen Dänemark und der BRD geworden. Entsprechend sind die beiden Sensationen dieser Insel ihre Zu- und Abfahrtswege: nämlich die 964 Meter lange Fehmarnsundbrücke und der Umladehafen Puttgarden, wo der Landverkehr komplett in riesige Fährschiffe verfrachtet und nach Lolland übergesetzt wird. Zwischen diesen beiden Verkehrsknotenpunkten und zerschnitten von ihrer sie verbindenden Straße liegt Fehmarn in einer Mischung aus Gekränktsein und Verlegenheit, die sorgsam verpackt ist in nordisch- kühlen Gleichmut.

Von der Bahnhofsgaststätte aus beobachte ich bei einem Glas Beuteltee die Ankunft des Fährschiffes und den Verladevorgang. Wie ein riesiges Maul kommt das Schiffsheck langsam auf Puttgarden zugeschwommen und stülpt sich über die Bahngleisenden, die Autozufahrt, den Passagiertunnel und damit eigentlich über ganz Puttgarden. Dann sperrt es sich weit auf, spuckt eine Mammutportion Waggons, Pkws und deren Insassen aus und schlürft die gleiche Ladung wieder ein — ein schwimmender Wiederkäuer im endlosen Takt zwischen Lolland und Puttgarden.

Der Bus bringt mich schließlich nach Burg, dem Hauptkaff Fehmarns, wo mir das Fremdenverkehrsbüro eine Liste von Privatunterkünften aushändigt. Meine telefonischen Bemühungen haben sofort Erfolg, und wenig später holen meine Wirte mich mit dem Auto ab. Es ist ein älteres Ehepaar, Frau und Herr Schnicks, welche die erste Verlegenheit überbrücken, indem sie mich über das Wetter trösten und mir dann beruhigend versichern, daß Fehmarn noch ganz deutsch sei. Hier gäbe es keinen von diesen Ausländern, betont Herr Schnicks in plattem Dialekt, woraufhin sich ein tiefes Schweigen wie ein Ausrufezeichen über den Rest der Fahrt breitet. Nach der Ankunft in Püttsee — das sind fünfeinhalb Häuser — erhalte ich ein Zimmer, das auf wenigen Quadratmetern nahezu sämtliche Zutaten deutscher Spießigkeit versammelt. Es ist inzwischen Abend geworden, und mein erster Spaziergang in Richtung Küste wird zu einer Provinzodyssee über aufgeweichte Wege und Felder. Vollständig durchnäßt und verirrt, gebe ich schließlich auf und verziehe mich unter die turmhohen Bettdecken meines eichenen Doppelbetts in Püttsee.

Zum Frühstück gibt es am nächsten Morgen Räucheraal und ein dickes Echtei zu Beuteltee und aufgewärmten Brötchen, die nach Ofenreiniger schmecken. Ich bin der einzige Gast und bekomme daher die ganze Wortladung von Frau Schnicks über Wetter und Krankheit und Krankheit und Wetter aufgebrummt. Schnellstens mache ich mich zur Inselumwanderung auf, die ich am Westrand beginne. Heute halte ich stur auf den Leuchtturm zu und befinde mich bald auf dem Deich, dem ich in Richtung Norden folge.

Das Wetter ist friesisch-herb, wie rotwangige Biertrinker sagen würden. Durch wilde Wolkenzüge bricht immer wieder ein deftiger Sonnenschein, der meine eingemummelte Spaziergestalt anfeuert. Als ich die Nordecke Fehmarns erreicht habe, hat sich die Himmelsbühne dramatisch verändert. Im letzten Moment finde ich Unterschlupf auf der überdachten Terrasse einer geschlossenen Strandbude. Von hier schaue ich zu, wie das Wetter sich schwärzlich zusammenbraut, bis es kein Halten mehr gibt: ein Schneesturm bricht los und legt sein weißes Gewimmel über alles — dann ist der Sand weiß und das Meer blau; ich gehe weiter.

Vorbei an einem Lauschposten der Bundeswehr, an einem weiteren Leuchtturm, zwei Schwänen, die in der Brandung schaukeln und einem Kriegsschiff, das den Horizont markiert — und lande schließlich im Eiscafé des Ortes Burg, wo es sogar einen Cappuccino gibt. Im Panoramafenster zum Marktplatz Burgs sitzt einer der Hiesigen, sieht aus wie Mitte dreißig und ist wahrscheinich Mitte zwanzig. Er raucht, trinkt Cappuccino, starrt aus dem Fenster, tauscht Worte mit den Angestellten und wartet: daß etwas passiert. Aber es passiert nichts, und das nächste „große Geschehen“ wird die Touristenschwemme in der Hauptsaison sein. Er sitzt am falschen Ort, zur falschen Zeit; er weiß das, und trotzdem...

Am nächsten Tag ziehe ich um in den Fehmarner Süden. Mein Gastgeber dort ist der Oberpolizist dieses Eilandes. Zu ihm und seiner Frau gelange ich mit Hilfe eines prallblonden und geradezu umwerfend herzlichen Jünglings. Kersten, Bauernsohn aus Staberdorf, hatte mich in seinem klapprigen Kombi an der südlichen Ausfallstraße von Burg aufgelesen und neben seinen frisch reparierten Pflug gesetzt. So rumpelten wir drei an die Südostspitze Fehmarns nach Staberdorf, wo er mich bei dem Oberpolizisten und Zimmerwirt absetzte.

Auch dieses Wirtepaar hat auf meine Auskunft, daß ich aus der Großstadt käme, nichts Eiligeres zu tun, als ihre Erleichterung kundzutun, daß es auf Fehmarn keine Ausländer gebe — ein Mitgefühl, das mich langsam irritiert. Wiederum bin ich der einzige Gast und bekomme ein Zimmer unter dem Dach, das wohl einst die Tochter des Hauses benutzte. Statt des Schnickschen Doppelbettes steht hier das praktische Preßspanmodell mit rollbarem Unterkasten. Es ist alles etwas enger, weil moderner als bei Schnicks in Püttsee. Nachdem ich mir mehrmals den Kopf an der Dachschräge gestoßen habe, gebe ich das Kofferauspacken auf und gehe los zum obligatorischen Strandspaziergang.

Eine Stunde später und etliche Küstenmeter weiter herrscht wieder lausiges Regenwetter, vor dem ich mich in die geöffnete Gaststätte „Seeblick“ rette. Platschnaß und raschelnd wie ein Plastikmonster schlurfe ich in meiner Regentracht in die biedere Kulisse und die mir entgegengeworfenen „Seeblicke“ der Anwesenden (die mit dem eingebauten Sicherheitsabstand). Im Hintergrund dudeln deutsche Seemannsschlager, und dazwischen rumort es geschäftig aus der Küche. Ein auffallend schlanker Wirt tauscht zwei defekte Glühbirnen aus, die Wirtin kocht, und dabei tauschen beide Worte.

In der Ecke gegenüber kauert ein älteres Touristenpaar, wie man es hier überall trifft: Kinder außer Haus, Lebensabend angebrochen — die Fesseln sitzen, und Ordnung muß sein. Jetzt essen sie — es ist ein Uhr mittags. Wir alle starren sprachlos hinaus durch den Regen aufs Meer — dann singt Heino. Mitten am Nordstrand Fehmarns stand ein Denkmalsmast für die 1932 gesunkene „Niobe“, auf dem geschrieben war: „Nicht zu leben ist wichtig, sondern seine Pflicht zu erfüllen für das Vaterland“ — vielleicht sollte ich meinen Beuteltee hier im „Seeblick“ mit den Steinen, die ich am Strand gesammelt habe, bezahlen.

Nach einem kalten Regenschauer zurück in meinem Zimmer, geht es unter die heiße Dusche, und alle Heizungen werden bedeckt mit nassem „Plün“. Unten hocken meine Wirte vor dem Fernseher. Jedesmal, wenn ich zurückkomme und die Treppe in mein Reich ersteigen will, halten sie mich zu einem Schwätzchen auf. Keiner von den beiden kann zuhören, und wie zwei ungeduldige nordische Hühner fallen sie sich gegenseitig ins Wort und zählen mir ihre gewichtigen Ansichten über die Welt auf: und dann und dann und dann ... bis ich mich schließlich fast gewaltsam aus der Dauerschleife reiße und über die Treppenstufen abgehe.

Tags darauf heißt es Abreise. Die tiefdeutsche Ruhe dieser Insel hat mich nicht anstecken können. Da mein Wirt seinen Hauptberuf im Zollbezirk Puttgarden versieht, nimmt er mich mit zum Zug. Die zweisame Fahrt über das flachgrüne Eiland scheint den obersten Polizisten Fehmarns sentimental und verlegen zu stimmen, so daß er mir seinen norddeutschen Leidensweg erzählt, der ihn schließlich in dieser Inselprovinz stranden ließ. Hier würde man zwar keine großen Sprünge mehr machen, aber dafür habe man wirklich Ruhe, meint er mit entschlossener Zufriedenheit.

Beim Abschied ist er zugleich gerührt und verblüfft über die eigene Offenheit. Ich bedanke mich dafür und gehe durch den gleichmäßigen Regen zur Bahnhofsgaststätte, trinke dort einen Beuteltee und starre auf das Riesenmaul der sich nähernden Fähre, das in wenigen Minuten meinen Zug ausspucken wird.