Böse Menschen lesen Jelinek

Und es ist wieder ein Buch erschienen  ■ Von Günter Franzen

Das gemeingermanische Adjektiv „gut“ bedeutete ursprünglich etwa „in ein Baugefüge, in eine menschliche Gemeinschaft passend“. Die Verwendung von „gut“ in den älteren Sprachzuständen deckt sich ungfähr mit derjenigen im heutigen deutschen Sprachgebrauch, also in den Bedeutungen „brauchbar, tauglich, günstig, tüchtig, wacker, brav“, ferner „anständig, ehrlich“ und „gütig, freundlich, hold“ usw.“ (Duden, Bd.7, Etymologie, Mannheim 1963, S.240)

Das gemeingermanische Adjektiv „gut“ bedeutete ursprünglich etwa „in ein Baugefüge, in eine menschliche Gemeinschaft passend“. Die Verwendung von „gut“ in den älteren Sprachzuständen deckt sich ungfähr mit derjenigen im heutigen deutschen Sprachgebrauch, also in den Bedeutungen „brauchbar, tauglich, günstig, tüchtig, wacker, brav“, ferner „anständig, ehrlich“ und „gütig, freundlich, hold“ usw.“ (Duden, Bd.7, Etymologie, Mannheim 1963, S.240)

Als Thomas Mann in der denkwürdigen BBC-Rundfunkrede vom 10.5.45 seine am Volksempfänger zur vorläufigen Kapitulation angetretenen Landsleute mahnte, das „deutsche Denken und Fühlen von der nazistischen Hintertreppen-Philosophie zu trennen“ und ihr auf immer und ewig abzuschwören, konnte er nicht ahnen, welche Lawine der Trennungen er mit seinem treuherzigen Aufruf lostreten würde. Wenn es uns, den Urenkeln, knapp 50 Jahre nach der wundersamen Auflösung der Barbarei in Wohlgefallen, vergönnt wäre, den alten Herren auf einer Sightseeing-Tour durch das moralisch runderneuerte Deutschtum zu begleiten, hätte er nicht nur Gelegenheit zu sehen, daß sich der „schreckliche Abgrund zwischen dem Land unserer Väter und Meister“ und der „gesitteten Welt“ längst geschlossen hat, sondern daß sich die zusammengewürfelten Deutschen in dem aus den Ausdauerdisziplinen Güte, Freundlichkeit und Holdheit hervorgegangenen ethischen Triathlon von nichts und niemandem auf der Welt überbieten, repsektive die Butter vom Brot nehmen lassen. Ob wir nach eines langen Tages Fernsehabend mit dem freundlichen Professor Brinkmann durch die Intensivstation der Schwarzwaldklinik schlendern oder mit Monsignore Franz Alt das dritte Remake der Bergpredigt breittreten; ob wir in der ARD-Nordkette den sprachtheologischen Exerzitien des Gottsuchers Botho Strauß lauschen oder mit Manfred Krug und seinem Beifahrer Jurek Becker Aldi-Pakete nach Weißrußland karren; ob wir mit Walter Jens die aufgelassenen Raketenstellungen von Mutlangen oder mit Christa Wolf die patriarchalen Störfälle von Troja und Tschernobyl besichtigen; ob wir uns an der Seite Horst Eberhard Richters unter dem Kommando „Touch me, feel me, heel me!“ in eine jener rund um die Uhr tagenden, von Helfersyndrom und Endzeitakne geplagten Menschenschlangen einklinken oder mit Günter Graß Indisch-Elend überfliegen, ob wir unter Anleitung des Sozialarbeiter-Duos Hans und Helga Beimer die in der Lindenstraße angehäuften Orgasmusprobleme einer befriedigenden genitalen Lösung zuführen oder anläßlich der alljährlich abzufeiernden historischen Schulddaten bis zu den Knien in der doppelrahmstufigen Beschwichtigungsrhetorik unseres Staatsoberhauptes waten: Vom Schmierigen zum Erhabenen, von den sedierenden Ausdünstungen der öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsküche bis hinauf zu den schimmernden wirtschaftsenthobenen Höhen des deutschen Feuilletons läuft die Verweizsäckerung des kulturellen Diskurses auf Hochtouren, ist das penetrierende Gute, prall, satt, bräsig, preiswert und engagiert bis auf die Knochen, immer schon da wie der Swinegel aus der Fabel, und so möchte man es dem verblichenen Heroen des germanischen Geisteslebens zurufen: „Ruhe sanft, Tommy, es ist vollbracht!“

„Das Böse ist im allgemeinen in sich kahl und gehaltlos, weil aus demselben nichts als selber nur Negatives, Zerstörung und Unglück herauskommt, während uns die echte Kunst den Anblick einer Harmonie in sich darbieten soll.“ Im samtenen Etui der Hegelschen Ästhetik schläft der Kulturschaffende seit dem Tod des satanischen Adrian Leverkühn und dem Selbstmord Rolf-Dieter Brinkmanns den Schlaf des Gerechten und beginnt sein Tagwerk konsequenterweise mit der im Genre der Bekenntnis- und Bewältigungsliteratur beliebten Frage: Was abbilden? Wen retten? Wo helfen? Totes Holz oder Zunge zeigen? Verbinden oder Einreiben? Flüchten oder Ranhalten? Wenn einem aber seit der frühen Kollision mit dem humanistisch drapierten Gymnasium tagtäglich aus dem ästhetisch verwahrlosten Gesinnungsdreieck von 'Stern‘, 'Frankfurter Rundschau‘ und 'Luchterhand‘ so viel unsäglich Gutes und ökologisch Wertvolles widerfährt, ist es für den verzweifelten Leser beruhigend zu wissen, daß er sich den Griff zum dreistöckigen Asbach Uralt ersparen kann, weil es fernab hinter den sieben Bergen, in einem Landstrich, den man nach dem Einmarsch von Claus Peymann getrost wieder als Ostmark bezeichnen darf, eine Frau geben soll, die tausendmal schöner schreibt & härter denkt als Ulla Hahn, Lea Rosh, Ingeborg Drewitz, Carola Stern und all die aufrechten, ewig klappernden Grobstricknadeln von der ökumenischen Akademie Bad Böll zusammengenommen.

Elfriede Jelinek ist eine starke Frau. Elfriede Jelinek ist ein schwaches Weib. Ich beziehe mein Wissen über die Stärken und Schwächen Elfriede Jelineks aus den Frauenperiodika 'Brigitte‘, 'Marie Claire‘, 'Emma‘ sowie einem Tête-à-tête in der Lounge des in der Kärtner Straße gelegenen Hotels Ambassador, wo sie außer meiner Wichtigkeit die in Kohortenstärke aus dem Altreich einfallenden Authentizitätsdeppen, Genievoyeure und Gralsritter empfängt, denen sie im Laufe der vermeintlich ersten von tausend Nächten neben dem Rätsel ihres metallisch schimmernden Lidschattens mit nicht nachlassender Geduld die Ätiologie ihrer Neurose incl. Deutung offenbart. Als Tochter, so bekennt Elfriede Jelinek, leidet sie seit ihrer Geburt im Jahre 1946 unter einer gescheiterten Mutter-Kind-Beziehung; als auf den Triebverzicht eingeschworene Autorin leidet sie unter den Qualen des ungelebten Lebens. Sie ist mit einem bajuwarischen Softwarehändler verheiratet, mit der Steinzeit-Feministin Alice Schwarzer verschwestert und der Kommunistischen Partei Österreichs verbrüdert, der sie seit dem Ableben Breschnews als Schriftführerin und Paradiesvogel dient. Sie trägt ihre High-heels wie Fanny Ardant, strähnt ihr braunes Haar im Stil einer Trümmerfrau, und ihr fragiler Hals erinnert den erlösungswilligen Kollegen von 'Uomo‘ an eine Madonna, die er aus seiner Heimatstadt Siena zu kennen glaubt. Der dem Alpen-Magazin 'Profil‘ zur Vervielfältigung überlassene schizophrene Schub, der sie in der Blüte ihrer Mädchenjahre ereilte, liest sich wie ein Auszug der Krankengeschichte Flauberts; ihre Trägerhosen stammen von Yamamoto, ihre Lederjacke von Chevignon, die bitteren Tränen der Sublimierung aus einem Faßbinder-Melodram, und nur bei ihrem Hund handelt es sich um keinen aus der Fernsehwerbung bekannten Markenartikel, sondern um eine possierliche Promenadenmischung, die lt. 'Vogue‘ vom 2.1.91 zu allem Überfluß auf den Namen Wuzzl hört.

Wer die laufenden Diktaphone seit über 20 Jahren so lieb, artig und überaus anstellig mit autobiographischem Verpackungsmaterial füttert, verbirgt sein Produkt, das den liebestollen Souvenirjägern der Abteilung Kultus & Hochglanz im Rohzustand nach dem ersten Bissen womöglich in der Kehle stecken bliebe. Drei Stunden nach Abklingen meines libidinös bedingten Affektsturms werde ich im Hinblick auf einen Primärtext der Tatsache inne, daß Elfriede Jelinek nebenbei auch noch schriftstellerisch tätig ist: „Sie begegnet sich, wo sie will, und flieht sich gleichzeitig, weil's woanders eine herrlichere Begegnung mit ihrem Inneren geben könnte, wo man in den Wolken sitzen und aus seligen Gläsern noch mehr von seinen Gefühlsamkeiten in sich hineinschütten kann. Ähnlich ist es mit der Kunst und was wir über sie empfinden, jeder etwas anderes, die meisten nichts, und doch sind wir uns einig, das letzte aus uns herauszubohren, und es dem anderen, nur halbgar gekocht, zum Verschlingen vorzusetzen.“

Bohren, schlingen, kotzen — der bulimische Umriß eines literarischen Programms wird sichtbar. Wenn der Talk-Strom verebbt ist und die gut geölten, von der mediatisierten Wienerin dahingeplauderten Nichtigkeiten die in sich rotierende PR-Maschine hinlänglich geschmiert haben, zeigt sich, daß alle Bemühungen, die Sprache der Jelinek in eine der von den edlen Alten zwischen Weimar und Pacific Palisades zusammengenagelten Kathedrale der Notgemeinschaft des deutschen Geistes zu überführen und heim ins Reich der permanenten Gottgefälligkeit zu holen, für die Katz sind. Elfriede Jelinek hat sich an die Absprache der schreibenden Zunft, nach dem Eintritt des real Bösen im Jahre 1933 des imaginativ Bösen zu entsagen und fortan nur noch das Gute zu wollen, zu predigen und mit den welken erzählerischen Mitteln des 19. Jahrhunderts zu Papier zu bringen, nicht gehalten: „Von seiner üppigen Freizeit verformt, ruht des Menschen Geschlecht in Gartensesseln und schleppt sich über Kieswege, auf die es zufrieden herabblickt aus seinem Täschchen, in dem es getragen wird und müßig und mäßig wippt wie der Ball eines Kindes. Die Arbeit formt ihn mitsamt seinen Geräten dann rasch wieder zu dem rauhen Tier, als das er gedacht war.“

Seit ihrem ersten öffentlichen Auftritt bei den Innsbrucker Jugendkulturwochen, wo sie 1969 die Preise für Lyrik und Prosa erhält und die danach von den verstörten Veranstaltern abgesagt werden, organisiert sie ihre haßerfüllten Attacken auf die ranzigen Bravheiten einer im naiven Realismus erstarrten, kompensatorischen Lesebuchkultur, die sich zwischen Bottroper Protokollen, Lenz' Deutschstunde und historischem Serienkitsch à la Feuchtwangers Erfolg am Geländer weltanschaulicher Empfehlungen und politischer Rückversicherungen von einer Saison-Ideologie zur anderen hangelt. Die weniger friedlichen Nachkriegsgeborenen haben der Jelinek Texte zu danken, die sich durch solitäre Intensität und historische Intelligenz auszeichnen: In wir sind lockvögel, baby (1970), Die Liebhaberinnen (1975), Die Ausgesperrten (1980) werden die an den Leibern und Seelen der Heranwachsenden begangenen Schwerverbrechen der fünfziger Jahre thematisiert und die zwischen Nesthäkchen und Ruth Leuwerik installierten sexuellen Alltagsmythen zertrümmert. In Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (1985) wird am massenhaft auftretenden apokalyptischen Behagen der rot- grünen Waldfreunde e.V. der „alles überziehende und verklebende natürlichkeitsschleim“ sichtbar gemacht. In Eine Versammlung (1977) zieht sie gegen die sprachliche Debilität der feministischen Blut-, Schweiß- und Tränenliteratur zu Felde und treibt der auf die Opferrolle abonnierten Frauenbewegung endgültig ihre notorische Wehleidigkeit und Heulsusigkeit aus. In Lust, dem Skandalerfolg der 89er Buchmesse, weden die Konturen eines Undings, nämlich der seit Menschengedenken beschworenen und übers matriarchale Murmeln nie hinausgekommenen weiblichen Sprache & Ästhetik sichtbar, die jedoch im allgemeinen konkretistischen Getöse um die lieblos verkuppelten Geschlechtsteile des Alptraumpaares Herrmann & Gerti unterging: 100.000 enttäuschte Käufer, 200 genervte Rezensenten und 50 hingerissene Leser, durch die Bank „aficionados“. In ihrem neuen Stück Totenauberg, der Titel spielt auf Heideggers Schwarzwald-Refugium, eine Kult- und Pilgerstätte des deutschen Tiefenrausches, an, trifft der dichtende Denker in einem alpinen Luxushotel auf seine Jugendliebe und Gegenspielerin Hannah Arendt, die er vor dem Hintergrund der aus dem Osten sich nähernden Emigranten- und Billigtouristenströme mit einem bramarbasierenden Monolog über Bodenständigkeit und Asylantentum, Naturgewalt und Naturbeherrschung, Krankheit und Rassenhygiene überzieht. Im Laufe der Handlung verwandelt sich die Szene in ein Schlachtfeld, auf dem sich das Eigene gegen das Fremde in historisch erprobter Weise durch Vernichtung und Kannibalismus behauptet: Am Ende bleibt auf der blutgetränkten Heimatscholle der Großphilosoph übrig, der in einer Horde besoffener Bergbauern, Skilehrer, Animateure und Dirndlträgerinnen den Sieg über die Fremdvölker feiert und dabei die eigenen Knochen über die Schultern wirft. Nach Abklingen der Gorbimanie kommen die Russen im zweiten Anlauf doch noch über die Elbe; die bejubelte Entgrenzung des Ostens mündet in die gewaltsame Verteidigung der Fleischtöpfe. An der Prognose der Autorin ist zur Zeit niemand interessiert, weil wir noch gar nicht absehen können, wie sich der garstige Golfkrieg auf unsere bedrohte Umwelt und unser wertes Befinden auswirken wird. Gestern hat die giftige orientalische Rußwolke den Himmel verfinstert und unser Kräutergärtlein verdreckt, aber morgen könenn wir vielleicht schon wieder fressen, was auf den Tisch kommt. Aus deutschen Landen. Die gute Butter. Das gute Buch. Der gute Mensch. Böse Menschen haben keine Lieder und lesen Jelinek. Was sonst?

Elfriede Jelinek: Totenauberg. Ein Stück

Rowohlt Verlag, 96 Seiten, DM 26