Hoffnungen, Enttäuschungen und Kriege

Der Kampf der Kurden im heutigen Irak ist älter als der Staat/ Verhandlungen mit den verschiedenen Militärregimes blieben letztendlich ergebnislos und führten zu einer neuen Runde von Kämpfen/ Mit der Forderung nach Autonomie wird sich auch die nächste Regierung in Bagdad konfrontiert sehen  ■ Von Beate Seel

Berlin (taz) — Wenn es nach den offiziellen Angaben aus Bagdad geht, herrscht im Norden des Landes wieder Sicherheit und Ordnung, ist nun der Alltag in Irakisch-Kurdistan eingekehrt. Wieder einmal heißt es, ausländische Agenten seien für die Kämpfe verantwortlich, „Rebellen“ hätten die kurdische Bevölkerung zur Flucht angehalten, wieder einmal wird eine Amnestie verkündet, an die niemand glauben mag, werden die Geflohenen zur Rückkehr aufgefordert. Worte, die man so oder ähnlich im Jahre 1988 schon einmal hören konnte, als nach dem Giftgasangriff auf Halabja eine Fluchtbewegung der kurdischen Bevölkerung in die Türkei einsetzte. Diese Erfahrung spielt heute mit, wenn über zwei Millionen Kurden alles stehen und liegen lassen und sich auf den beschwerlichen, ja gefährlichen Weg zur iranischen oder türkischen Grenze und in eine ungewissen Zukunft aufmachen.

Die Flüchtlinge, die aus Angst vor den Truppen Saddam Husseins in benachbarten Staaten Schutz suchen, ziehen durch ein mittlerweile weitgehend entvölkertes Land — eine dramatische Konsequenz der systematischen Politik der Zwangsumsiedlung, die das irakische Regime seit dem Ende des letzten großen Kurden-Aufstandes Mitte der siebziger Jahre forcierte. In den westlichen Teilen Kurdistans siedelte das Regime Araber an; die östlichen Landstriche wurden, mit der bisherigen Ausnahme einiger mittlerer Städte mit 50.000 bis 70.000 Einwohnern, entvölkert. Vertreter kurdischer Organisationen befürchteten damals, das Regime wolle die gesamte Region mit Ausnahme der großen Städte wie Kirkuk, Arbil, Zakho, Dohuk, Mosul und Suleimaniya in ein menschenleeres Gebiet verwandeln und die Insassen der Lager langfristig in andere Teile des Irak umsiedeln. Wieviele Opfer, wieviele „Verschwundene“ diese Operation, die von Protestdemonstrationen und Kämpfen begleitet wurden, forderte, ist nicht bekannt. Schätzungen zufolge waren in den Jahren 1976 bis 1989 über eine Millionen Menschen von der Deportationspolitik betroffen. Die tatsächliche Zahl dürfte noch höher liegen.

Das Argument des Regimes, es handele sich um die Schaffung einer Sicherheitszone entlang der Grenze, straft schon der Blick auf die Landkarte Lügen: Die entvölkerten Gebiete reichen bis zu 150 Kilometer ins Landesinnere. Die Zwansumsiedlungen hat nicht nur zahlreichen Menschen ihre Lebensgrundlagen entzogen. Wegen der vorwiegend bäuerlichen Struktur der kurdischen Bevölkerung kommt sie einem Angriff auf die kurdische Gesellschaft und ihre kulturelle Identität gleich. In den Augen des Regimes freilich ist diese Politik eine zivilisatorische Maßnahme: „Wenn ein primitives Dorf, auf der unteren Stufe der Zivilisation, geräumt wird und die Menschen dafür Wohnungen mit Wasser, Strom und medizinischer Versorgung bekommen, ist das etwa Völkermord?“ sagte damals der irakische Kriegsminister General Adnan Khairallah gegenüber Journalisten.

Ziel des Regimes war es, der kurdischen Guerilla, den Peschmerga („Die dem Tod entgegen gehen“), die Grundlage ihrer Existenz zu entziehen. Mit der Vertreibung der Bevölkerung aus den Bergen hat die Armee der Guerilla das Wasser abgegraben, in dem sie sich wie Fische im Wasser bewegen konnten. „Die Peschmerga sind jetzt auf bestimmte Stützpunkte angewiesen, in denen sie Lebensmittel lagern“, beschrieb Jalal Talabani, der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), in einem Interview gegenüber der taz die veränderten Bedingungen. „Diese Orte sind oft erst nach vielen Stunden Fußmarsch zu erreichen, während die Kämpfer früher einfach in das nächste Dorf gehen und sich an einen gedeckten Tisch setzen konnten.“

Ein unabhängiges Kurdistan gab es nie

Doch wie der jetzige Aufstand in Kurdistan zeigt, war der Widerstandswille der Kurden damit nicht gebrochen. Ihr Kampf reicht über die Geburtsstunde des unabhängigen Staates im Jahre 1930 hinaus. Waren es früher die Osmanen, gegen deren Ausweitungsbestrebungen sich die Kurden bereits im 19. Jahrhundert zur Wehr setzten, so bekämpften sie später die britische Mandatsmacht und anschließend die aufeinanderfolgenden Regimes in Bagdad. Über einen eigenen Staat freilich verfügten die Kurden nie: das Abkommen von Sèvres aus dem Jahre 1920, das einen kurdischen und armenischen Staat vorsah, verschwand nach dem Machtantritt Atatürks und angesichts der begehrlichen Blicke der Briten auf die ölreichen Gebiete im Nordirak in den Akten der Archive.

Doch im Irak wurden den Kurden das Existenzrecht niemals in dem Maße abgesprochen wie in der Türkei. Bis zum Jahre 1975 folgte der Kampf der Kurden um ihre Rechte stets dem gleichen Muster: Auf den Antritt einer neuen Regierung in Bagdad, der zunächst daran gelegen war, sich im Innern fest zu etablieren, folgte eine Phase der Hoffnungen und Verhandlungen, die früher oder später in taktischen Manövern, Verzögerungsversuchen, gegenseitige Anschuldigungen, ersten Kämpfen und schließlich offenem Krieg mündete. Der Widerspruch zwischen der Anerkennung der nationalen Rechte der Kurden und des Iraks als einem Teil der arabischen Nation, der sich in mehreren Dokumenten niederschlug, blieb dabei bis heute ungelöst. Für die Armee war der Krieg kaum zu gewinnen, denn die Peschmerga waren in den Bergen zu Hause, konnten sich auf die Bevölkerung stützen und brachten die Truppen des Regimes wiederholt an den Rand einer militärischen Niederlage.

Der Konflikt um Kirkuk

Im Jahre 1970, zwei Jahre nach einem Militärputsch unter General Ahmad Hassan al Bakr, schien endgültig die Stunde der Verhandlungen zu schlagen. Ein Abkommen vom 11. März versprach den Kurden Autonomie und Beteiligung an der Regierung, doch die damit verknüpften Versprechungen, wie Entwicklung der Region oder die Einführung kurdischer Schulbücher, wurden nur ansatzweise realisiert. Ein zentraler Streitpunkt war die Frage der Grenze, welches Gebiet also die autonome Region umfassen sollte. Für den Kurdenführer Mulla Mustafa Barzani, der nach Jahren des Exils zunächst im Iran, dann in der Sowjetunion und 1958 in seine Heimat zurückgekehrt war, stand nie in Frage, daß die ölreiche Region um Kirkuk Teil Kurdistans ist. Das Regime war jedoch nicht gewillt, diese wirtschaftlich bedeutsame Gebiet abzutreten. Eine Volkszählung, die Barzani Recht gegeben hätte, wurde gar nicht erst durchgeführt. Im Gegenteil: Das Regime begann, Kurden aus dem umstrittenen Gebiet zu vertreiben und Araber anzusiedeln. Weitere Repressalien und ein gescheiterter Mordanschlag auf Barzani ließen die Kurden an den ernsthaften Absichten des Regimes zweifeln.

Das fatale Bündnis mit dem Iran

In dieser Situation intensivierte Barzani seine langjährigen Beziehungen zum Iran wieder, die 1970 unterbrochen worden waren. Zwischen Bagdad und Teheran spitzte sich damals bereits der Konflikt um den Grenzverlauf am Schatt al Arab zu; nach dem Abzug der Briten im Golf und der US-Militärhilfe für den Iran stand Irak in der Region und im Westen (Ausnahme: Frankreich) weitgehnd isoliert da, eine Entwicklung, die 1972 zum Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion führen sollte. Die Interessen Barzanis und des von den USA gestützten Schahs von Iran waren keineswegs identisch. Sie verfolgten jedoch das gemeinsame Ziel, das Regime in Bagdad zu schwächen. Barzani, der zuvor auch gute Kontakte zu seinem ehemaligen Gastgeberland Sowjetunion unterhalten hatte, knüpfte nun enge Bande mit dem Iran, dem CIA und den USA — eine Allianz, die fatale Folgen für die Kurden haben sollte.

Die Drähte zu Bagdad waren in dieser Zeit noch nicht völlig gerissen, doch angesichts der iranischen Unterstützung für Barzani verschärfte sich der Ton zwischen den Konfliktparteien: Die Kurden waren nicht bereit, sich ohne Garantien einer wirklichen Regierungsbeteiligung der „Nationalen Front“ anzuschließen, die das Regime ins Leben gerufen hatten und an der sich die Kommunisten beteiligten. Auch das Kirkuk-Problem blieb ungelöst.

Als der Krieg schließlich im Frühjahr 1974 offen ausbrach, war dies einerseits die Phase des größten Triumphes für Barzani, andererseits aber auch der Beginn seines Niedergangs. In Kurdistan hatte sich ein regelrechter Partei- und Sicherheitsapparat herausgebildet, der Guerillakrieg wandelte sich in einen regulären Krieg mit Unterstützung eines mächtigen Nachbarstaates. Die Kehrseite dieser Stärke war die völlige Abhängigkeit Barzanis vom Schah und den USA. Unmittelbar vor Kriegsbeginn hatte die Regierung einseitig ein Autonomiegesetz verkündet, in dem die kurdischen Vorstellungen nicht enthalten waren. Barzani wurde eine Frist von zwei Wochen eingeräumt, um sich der Nationalen Front anzuschließen. Die Kurden konterten mit eigenen Forderungen: Die Erweiterung des autonomen Gebiets und ein Prozentsatz der Öleinnahmen, die dem kurdischen Bevölkerungsanteil entsprachen. Letzteres sollte der autonomen Regierung eigene finanzielle Mittel bescheren.

Die Folgen des Abkommens von Algier

Ende März standen sich in Kurdistan 50.000 bis 60.000 Peschmergas, weitere rund 50.000 kurdische Freiwillige und 90.000 irakische Soldaten gegenüber. Militärisch, das sollte sich zeigen, waren die Kurden nicht zu schlagen. Der Iran stellte ihnen Raketen und Kanonen zur Verfügung. Die Unterstützung aus dem Nachbarland nahm derartige Formen an, daß eine Eskalation zu einem iranisch-irakischen Krieg nicht mehr auszuschließen war. In dieser Situation sah das Regime in Bagdad den einzigen Ausweg darin, den Kurden die Hilfe aus dem Iran abspenstig zu machen. Im März 1975 schlossen Saddam Hussein und der Schah das sogenannte Abkommen von Algier, in dem die Grenzstreitigkeiten zugunsten des Iran beigelegt wurden. Im Gegenzug verpflichtete sich der Schah, seine Unterstützung für die Kurden einzustellen. Die iranischen Waffen wurden abgezogen, und der Aufstand in Kurdistan brach zusammen. Über 200.000 Kurden flüchteten in den Iran.

Nach dieser Niederlage begann das Regime mit seiner Politik der Zwangsumsiedlungen, um die kurdische Bewegung ein für allemal zu zerschlagen. Die Autonomie-Regellung von 1974 brachte den Kurden nur wenige Vorteile und umfasste ohnehin noch nicht einmal die Hälfte des Territoriums, das sie als ihr Stammland betrachteten. Um den Zankapfel Kirkuk für künftige Eventualitäten aus dem Wege zu räumen, teilte das Regime die Provinzen neu auf, sodaß es in der Region heute eine arabische Mehrheit gibt. Intern führte das Debakel von 1975 zu einer ganzen Reihe von Spaltungen und Neugründungen kurdischer Organisationen, die letztendlich alle aus der Demokratischen Partei Kurdistans hervorgingen. Sie wird heute von Massud Barzani, einem Sohn des legendären Kurdenführers, geleitet. Insgesamt acht kurdische Organisationen haben sich mittlerweile in der Kurdischen Front, einer Dachorganisation der irakischen Kurden-Parteien, zusammengeschlossen.

Hoffnungen auf die Schwäche des Regimes

Auch der Zyklus von Verhandlungen und Krieg gehörte nun der Vergangeheit an. Nachdem Präsident Al Bakr 1979 zugunsten von Saddam Hussein zurücktrat, etablierte sich die Baath- Partei in Bagdad fest an der Macht. Jetzt waren es vielmehr die vom Regime angezettelten Kriege, die den Kurden neue Chancen boten, ihre Forderungen durchzusetzen. Als Saddam Hussein im Herbst 1980 das Abkommen von Algier aufkündigte und vier Tage später im Iran einmarschierte, schien sich den Kurden diesseits und jenseits der Grenze die historische Gelegenheit zu eröffnen, sich gegen die kriegsführenden Regimes in Teheran und Bagdad durchzusetzen und dem Traum von einem eigenen Staat ein großes Stück näher zu kommen.

Das alte Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ setzte sich einmal mehr durch. Iran und Irak unterstützten die Oppositionsgruppen im jeweiligen Nachbarland; innere Auseinandersetzungen waren die Folge. Als der Iran 1983 eine Front im Norden eröffnete, wurde auch Kurdistan zum Kriegsschauplatz, kurdische Städte in beiden Ländern wurden Opfer von Bombenangriffen. Doch im Schatten des irakisch- iranischen Krieges ging in den kurdischen Bergen, weitgehend unbemerkt, auch der „vergessene Krieg“ der Kurden für ihre Rechte weiter.

Mit dem Volksaufstand gegen Saddam Hussein nach der jüngsten Niederlage im Golfkrieg und seiner brutalen Niederschlagung, drohen die Kurden im Irak nun endgültig zu einem Volk der Vertriebenen und Flüchtlinge zu werden. Selbst ein Saddam Hussein könnte mit UNO- Enklaven entlang der Grenzen leben — wäre da nicht das Problem der Souveränität. Diese Frage ist gerade in einem Land besonders prekär, das sich aus drei großen ethnischen und religiösen Gruppen zusammensetzt: den schiitischen Arabern im Süden, den sunnitischen Arabern im Zentralirak und den ebenfalls mehrheitlich sunnitischen Kurden im Norden. Dieser innere Konflikt hat die Geschichte des Irak seit seiner Geburtsstunde begleitet und konnte auch durch die modernistische Politik der Baath-Partei nicht beseitigt werden, gerade auch, weil sie auf einem System des institutionellen Terrors und der Gewalt beruht und den verschiedenen Gruppen jedwede ernsthafte Mitgestaltung an den Geschicken des Landes verwehrte. Ein Knabbern an den Souveränitätsrechten des Regimes in Bagdad wird dort daher, wie so oft in der Vergangenheit, als ein erster Schritt zu einer wirklichen Autonomie oder separatischer Bestrebungen gesehen und verurteilt werden. Aber die Vergangenheit hat auch gezeigt, daß die Probleme des Landes mit den Mitteln von Terror und Krieg nicht zu lösen sind. Früher oder später wird eine neue Regierung in Bagdad mit der alten Forderung nach einem autonomen Kurdistan konfrontiert werden. Es bleibt nur zu hoffen, daß dann der Zyklus von Hoffnungen, Verhandlungen, Enttäuschungen und Krieg nicht wieder von vorne beginnt.