Die Kurden: Ein betrogenes Volk

Fast die gesamte Bevölkerung auf der Flucht/ Nur zwei Straßen führen in die Nachbarstaaten/ Die Flüchtlinge ziehen über ein unerschlossenes Gebirge in die Türkei und über alte Schmuggelpfade in der Iran/ Vergebliche Hoffnungen auf den Westen/ Der Traum von einem eigenen Staat  ■ Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) — Die Angaben schwanken, doch eins ist gewiß — es sind viele. Ob nun 1,5 oder zwei Millionen (manche sprechen gar von 2,5 Millionen), ein ganzes Volk ist auf der Flucht. Die Bilder aus den Lagern entlang der türkisch-irakischen Grenze spiegeln noch das pure Entsetzen über die Erfahrungen der letzten Tage. „Wir sind sieben Tage durch die Berge marschiert“, berichtet eine Irakerin, die der christlichen Minderheit angehört, einem 'Reuter‘-Korrespondenten. „Um uns her waren tausende andere Flüchtlinge. Im Irak geschieht ein Völkermord.“

Insgesamt lebten im Irak rund vier Millionen Kurden. Da viele Männer nach wie vor kämpfen und deshalb nicht bei ihren Familien sind und knapp ein Drittel der kurdischen Bevölkerung bereits in den letzten 20 Jahren in den Süden zwangsumgesiedelt wurde, handelt es sich bei den riesigen Flüchtlingtrecks tatsächlich um fast das gesamte kurdische Volk des Iraks, das noch in seinem angestammten Siedlungsgebiet gelebt hatte. Daß diese Vertreibung gleichzeitig einen Massenmord, der letztlich zu einem Völkermord werden könnte, darstellt, hat auch mit dem Gebiet zu tun, aus dem der Exodus stattfindet.

Unwegsames Dreiländereck

Das Länderdreieck Türkei-Irak- Iran, das kurdische Kernland, gehört zu den unwegsamsten Gebieten der Erde. Das Gebirgsmassiv ist bis zu 4.000 Metern hoch, völlig zerklüftet und nur in den Schluchten und Tälern bewaldet. Dazu kommt: Auch Gebirge ist nicht gleich Gebirge. Würde man 2 Millionen Mitteleuropäer, ausgerüstet nur mit dem, was sie am Leib tragen, über die Alpen jagen, sie hätten im Vergleich zu dem, was die irakischen Kurden nun erleiden, immer noch einen Spaziergang vor sich.

Im Gegensatz zu den Alpen sind die kurdischen Berge völlig unerschlossen. Aus dem Irak heraus existieren ganze zwei ausgebaute Straßen. Die eine führt über Mosul am Tigris entlang nach Zakho nahe der syrischen Grenze in die Türkei, die andere über Kirkuk Richtung Norden, erst nach Arbil und dann über Rowanduz in den Iran. Beide Straßen werden von Saddams Schlächtern aus der Luft bombardiert und sind trotzdem mit Flüchtlingstrecks heillos verstopft. Über die alte Hamilton-Road am Hadsch-Omran-Paß von Rowanduz bis zur iranischen Grenze steckt über eine viertel Million Menschen bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt fest. Nach Informationen kurdischer Exilanten sollen in dem Tal unterhalb der Paßstraße noch einmal eine halbe Million Kinder, Frauen und alte Menschen darauf warten, in den Iran flüchten zu können.

Dabei ist der Weg in den Iran, verglichen mit dem in die Türkei, immer noch einfach. Schon traditionell benutzen die kurdischen Peshmerga auf dem Weg von der Türkei in den Irak und umgekehrt eher den Umweg über den Iran. Zwar gibt es südlich des Hadsch-Omran bis Sulaymaniya keine Straße mehr, die in den Iran führt, aber durch die Täler entlang des Kleinen Zab, einem der größten Zuflüsse des Tigris, führen die traditionellen Schmugglerpfade. Auch die Camps der kurdischen Guerilla waren hauptsächlich hier zu suchen. Etliche Maultierpfade führen über die Grenze und ermöglichten die Flucht von bereits einer knappen Million Menschen in den Iran. Da das Gebiet beiderseits der Grenze immer mal wieder von den Kurden kontrolliert wurde — hier lagen schon in den letzten Jahren die befreiten Gebiete — waren die Möglichkeiten der Guerilla, die Flüchtlinge zu unterstützen, hier sicher auch am größten. Erst vor drei Tagen wurde gemeldet, daß Guerilla-Truppen aus diesem Gebiet versucht haben, die Stadt Sulaymaniya wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die meisten Toten wird es wohl entlang der türkischen Grenze oder auf dem Weg dorthin geben. In Richtung Norden gibt es nur behelfsmäßige Wege, die früher einzelne Dörfer miteinander verbanden, aber außer der südwestlichen Verbindung über Mosul-Zakho keinerlei Straßen, die einen Durchzug in Richtung Türkei vereinfachen würden. Dazu kommt, daß die Zerstörung durch die wechselnden irakischen Regimes in diesem Gebiet am weitesten fortgeschritten ist.

Bereits im September 1988, unmittelbar nachdem die Waffen im Krieg mit dem Iran schwiegen, war es schon einmal zu ähnlichen Szenen wie jetzt im Grenzgebiet zur Türkei gekommen. Damals rächte sich Saddam Hussein an der Zivilbevölkerung für die Zusammenarbeit der kurdischen Guerilla-Gruppen mit dem Iran und ließ seine Luftwaffe Giftgaseinsätze gegen die kurdischen Dörfer fliegen.

Folgen der Zwangsumsiedlung

Mit dem Massakern vor zweieinhalb Jahren wurde eine irakische Vernichtungs- und Vertreibungspolitik abgeschlossen, die bereits seit 30 Jahren die Lösung der Kurdenfrage in deren Verschwinden sieht. Was in den 60er Jahren mit Zwangsumsiedlungen aus den Bergdörfern im Norden begann, endete im Herbst 1988 mit der völligen Zerstörung sämtlicher Siedlungen in den Bergen. Die Kurden wurden entweder in die Türkei oder den Iran vertrieben oder in Lager in den gut kontrollierbaren Ebenen gezwungen.

Bei einem Versuch, der internationeln Öffentlichkeit zu beweisen, daß die irakische Armee kein Giftgas eingesetzt habe, wurden damals Journalsten aus aller Welt mit Hubschraubern über das irakisch-türkische Grenzgebiet geflogen. Dabei ließ sich über einen Giftgaseinsatz zwar weder negativ noch positiv etwas feststellen, unverkennbar aber war die Zerstörung sämtlicher Dörfer — durch konventionelle Bomben, wie die Iraker stolz betonten. Daß 1988 trotzdem massiv Giftgas eingesetzt wurde, steht nach unabhängigen Untersuchungen der Opfer in den Flüchtlingslagern in der Türkei und im Iran jedoch zweifelsfrei fest.

Die systematische Zerstörung aller kurdischen Dörfer hat nun zur Folge, daß die Bewohner der kurdischen Städte, die jetzt an die Grenzen flüchten, in den Bergen weder ortskundige Führer noch irgendeine andere Hilfe — Nahrungs oder Transportmittel — vorfinden. Dazu kommt, daß Saddam Hussein schon vor Jahren einen bis zu 30 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze verminen ließ, um der Guerilla den Grenzübertritt zu erschweren. Etliche Flüchtlinge erreichen die türkische Grenze deshalb mit schweren Verletzungen von hochgegangenen Minen und verbluten dort, weil keine ärztliche Hilfe geleistet wird.

Wieder, wie schon 1988, sind die Schluchten mit Flüchtlingen gefüllt, die den Weg über die Berge nicht schaffen und aus den berüchtigten irakischen Kampfhubschraubern angegriffen und massakriert werden. Mangels entsprechender Ausrüstung haben die Kurden keinerlei Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Ob die Iraker die jüngsten US-amerikanischen Forderungen nach Einstellung der Luftangriffe auf die Flüchtlinge erfüllen, ist noch unklar.

Das Dilemma der kurdischen Politik

Angesichts des Dramas in den kurdischen Bergen wird den Führern der irakischen Kurdistan-Front, vor allem Masud Barzani von der Demokratischen Partei und Jalal Talabani von der Patriotischen Union Kurdistans, jetzt vereinzelt vorgeworfen, sie hätten ihr Volk in den Tod geführt weil sie auf die westliche Allianz und vor allem die USA vertraut hätten.

Hinter diesem Vorwurf verbirgt sich eines der entscheidenden Dilemmata kurdischer Politik und ein grundsätzlicher Dissens zwischen einzelnen Parteien. Das auf fünf Staaten aufgeteilte kurdische Siedlungsgebiet (Türkei 12 Millionen, Iran 6 Millionen, Irak 4 Millionen, Syrien eine knappe Million und die UdSSR mit einigen hunderttausend Menschen) hat immer dazu geführt, daß Kurden aus den unterschiedlichen Ländern gegeneinander ausgespielt wurden. Beispielsweise wurden Kurden aus dem Irak von den Machthabern im Iran unterstützt, ohne daß sie sich darum scherten, wie es den Kurden im Iran ging und umgekehrt. Eine kurdische Partei, die die Interessen der Kurden in allen fünf Ländern — wobei die UdSSR die geringste Rolle spielt — vertritt, gibt es nicht. Jede kurdische Partei bezieht sich zuerst einmal auf die Machthaber des Landes, die ihr Gebiet kontrollieren. Das hat dazu geführt, daß kurdische Bewegungen von außen instrumentalisiert wurden und, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten, wieder fallen gelassen wurden.

Andererseits kann keine Befreiungsbewegung gegen fünf Nationalstaaten gleichzeitig kämpfen. So wurde dann, oft mehr aus der Not als aus tatsächlichem politischen Wollen, die Formel von der Autonomie innerhalb der Grenzen des Irak, des Iran oder der Türkei entwickelt.

Doch was für die politische Führung und das Parteiprogramm galt, war oft schon in den Köpfen der Peshmerga nicht mehr angekommen. „Wir kämpfen für einen kurdischen Staat, die kurdische Fahne und eine Grenze, wo wir auch die Pässe der Iraker oder Türken kontrollieren können“, erzählen Kurden aus allen Ländern.

Daß der Traum vieler Kurden gerade in der Umsetzung der Idee des Nationalstaates liegt, einer Idee, die hauptsächlich für ihr Elend verantwortlich ist, gehört zu den Paradoxien des kurdischen Kampfes. Von den großen kurdischen Parteien verfolgt einzig die aus der Türkei stammende Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auch offiziel diese Linie. Sie kritiserte die irakischen Parteienführer deshalb als Leute, die versucht hätten, eine Lösung der kurdischen Frage innerhalb der „Strategien der Imperialisten“ zu suchen.

Zweifellos haben Barzani und Talabani geglaubt, in der jetzigen Situation, zumindest mit der politischen Unterstützung des Westens rechnen zu können. In Gesprächen in London und angeblich auch bei einem Treffen mit Baker in Damaskus, so wurde immer wieder kolportiert, sei Sympathie für eine kurdische Autonomieregelung bekundet worden. Daß die kurdische Bevölkerung fest davon ausgegangen war, durch die Alliierten wenigstens vor Luftangriffen geschützt zu werden, machten die Aussagen zahlreiche Flüchtlinge deutlich. „Der Westen hat uns betrogen“, lautet die einhellige Auffassung in den Lagern.

Vielleicht gelingt es ja dem britischen Premierminister John Major, diesen Eindruck wieder zu korrigieren. Eine von der UNO garantierte autonome kurdische Region im Nordirak wäre zweifellos ein gewaltiger Fortschritt. Tatsächlich haben gerade die Briten bei den Kurden einiges gutzumachen. Statt der Option eines Kurdenstaates zu folgen, erweiterte London sein Mandatsgebiet Irak auf die jetzigen Grenzen und sicherte sich die Kontrolle der ölreichen Regionen in Kurdistan.