: Richtig gelogen haben die DDR-Statistiker nicht ...
... aber die Politiker bestimmten, was sie wie veröffentlichen durften ■ Aus Hannover Dietmar Bartz
Statistiker haben offenbar eine systemübergreifende Eigenschaft: Sie sammeln und sortieren ihre Zahlen zumeist gründlich und korrekt. So fand auch Egon Hölder, Präsident des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, keinen Grund zur Kollegenschelte, als er auf der Hannover Messe Industrie die Ergebnisse einer Untersuchung vorstellte, welche die Arbeit der ehemaligen DDR-Statistiker nachprüfte.
Wichtigstes Ergebnis der Recherche in zahlreichen ostdeutschen Ämtern und Betrieben: Die Zahlen stimmten. Die Bösen, die für die höchst restriktive Veröffentlichungspolitik sorgten, waren in der Partei- und Staatsführung zu suchen. Schließlich, so Hölder, sei das Hauptziel der Veröffentlichung Propaganda für das sozialistische System gewesen. Deswegen seien zumeist nur Positivmeldungen publiziert worden.
Getrickst wurde allerdings schon, wenn auch — Hölder wurde nicht müde, dies zu beteuern — die Zahlen stimmten. Dafür hatte er einige Beispiele mitgebracht. Wurde noch im Oktober 1988 die Übergabe der dreimillionsten seit 1971 fertiggestellten Wohnung bejubelt, sind in diesem Zeitraum tatsächlich nur zwei Millionen Wohnungen gebaut worden.
Wohnungsbestand schöngerechnet
Der Trick: Modernisierte Wohnungen, die eine Erstaustattung mit Innentoilette, Bad bzw. Dusche oder moderner Heizung erhielten, wurden in die Zahl der fertiggestellten Wohnungen einbezogen, obwohl dies nach den Definitionen der UN- Wirtschaftskommission für Europa nicht zulässig ist. Ergebnis immerhin: ein Plus von 1,042 Millionen Wohnungen. Selbst nach den Kriterien der DDR waren darüberhinaus Feierabendheime [Altenheime/d. Red.] mit Pflegestationen kein Bestandteil des Wohnungsneubaus. Doch der Ministerrat dekretierte 1974: „Bei der Neuschaffung von Feierabendheimen mit Pflegestation ist ein Heimplatz als eine Wohnungseinheit zu planen und abzurechnen.“ Das brachte im Laufe der Jahre immerhin weitere 68.000 Wohnungen.
Ein anderes Beispiel ist die einst vielgerühmte Preisstabilität in der DDR, die sich nur wenig mit den Erfahrungen der BürgerInnen deckte. Nach dem amtlichen Index der Einzelhandels-Verkaufspreise stiegen die Lebenshaltungskosten von 1980 bis 1989 insgesamt um nur 0,1 Prozent. Rechnerisch war das richtig, doch zustandegekommen ist dieser Wert dadurch, daß nur vergleichbare Angebote in diese Rechnungen einbezogen wurden. Halbneue Produkte, deren zuweilen hohe Preise kaum gerechtfertigt schienen, fehlten ebenso wie der Umstand, daß in einer Mangelwirtschaft der Zwang existiert, Erzeugnisse höherer Preisgruppen zu kaufen, wenn es Niedrigpreisiges nicht gibt.
Nach Qualität wurde nie gefragt
Und so hat das Statistische Bundesamt die Einzelhandelspreise noch einmal auf der Basis der Bundestatistik durchgerechnet. Das Ergebnis, „ein starker Hammer“ (Hölder): Von 1980 bis 1989 stiegen danach die Preise um insgesamt 12,3 Prozent. Als „schmerzliches Defizit“ vermerkte Hölder auch, daß nicht hinreichend nach Produktivitäts- und Qualtitätsmaßstäben gefragt wurde.
Und noch etwas hat die West-Statistiker erstaunt: Keinesfalls war es so, daß die Plankommission ihre Vorgaben gnadenlos herausdiktiert hat. Vielfach wurde vor der Erstellung eines neuen Planes mit den Betrieben verhandelt, wie die Ziffern aussehen könnten. Zwar spielte auch hier die Qualitätskontrolle eine höchst untergeordnete Rolle, und die Betriebe konnten des öfteren Prämien für Plan-Übererfüllung kassieren, wenn es ihnen zuvor gelungen war, den Zuwachs der Vorgaben zu senken. Aber sogar kleinere Revisionen des Planergebnisses konnten nachgewiesen werden.
Vor allem im Gesundheitsbereich und der Bevölkerungsstatistik sind die Datenerhebeungen äußerst umfasend gewesen — sie unterliegen jetzt, beruhigt Hölder, dem Amtsgeheimnis. Einige Betriebe, berichtete er, hätten nach Wende und Einheit offenbar geglaubt, sie bräuchten jetzt überhaupt keine Meldungen mehr abzugeben — „in Wirklichkeit sind es eher mehr“. Diese Probleme seien aber inzwischen weitgehend bereinigt worfen.
Komplizierter ist die Umstellung der Statistik nach westdeutschen Kriterien. Ende des Monats soll endlich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für die fünf neuen Länder im zweiten Halbjahr 1990 fertiggestellt sein. Weitere Auskünfte wird der gesamtdeutsche Bevölkerungs- Mikrozensus im Frühjahr bringen, bei dem ein Prozent der Bevölkerung befragt wird. Allerdings räumte Hölder ein, daß sich die sozialen und ökonomischen Verschiebungen in Ostdeutschland mit einer solchen Geschwindigkeit vollziehen, daß eigentlich alle drei Monate neue Daten erhoben werden müßten. An eine Extra-Volkszählung im Osten, so Hölder, werde in der Politik aber nicht gedacht. Und, eingedenk der Reaktionen auf die letzte Generalumfrage: „Glücklicherweise habe ich das nicht zu entscheiden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen