ESSAY
: Ist die SPD ein Auslaufmodell?

■ Über die sozialdemokratische Affinität zum Industriekonservativismus

Vor einiger Zeit schon verkündete Graf Lambsdorff (FDP) lauthals, der Vergleich zwischen der DDR und Sizilien sei eine Beleidigung. Klar, wer sich da beleidigt fühlen soll. Der erzkonservative SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Rappe (IG Chemie) trommelte seinerseits bei einer großen Protestdemonstration vor den Leuna-Werken, „dieser Traditionsbetrieb“ dürfe niemals untergehen. Nachdem wochenlang wieder Hunderttausende über den Leipziger Ring gezogen waren, markierte die Absage der Montagsdemonstrationen durch die IG Metall eine vorläufige Zäsur der neuesten deutsch- deutschen Aufregungen über das — nicht nur ökonomische — Desaster in der ehemaligen DDR.

Natürlich hat die CDU vor den Wahlen gelogen, daß sich die Balken bogen. Viele sind diesen Lügen nur allzu gerne auf den Leim gegangen. Und natürlich hat die SPD recht gehabt. Allerdings hat sie diese bessere Einsicht bis heute nicht in ein politisches Konzept umgesetzt, sondern es vorgezogen, ihren Kanzlerkandidaten Lafontaine mit den höheren Werten des Vaterlandes und der Nation zu demontieren, um des — gänzlich gescheiterten — Versuches willen, die Union in der nationalen Frage zu überholen. Verloren hat sie trotzdem. Unter die Räder ist dabei, so scheint es, all das gekommen, was sich die SPD seit der Bonner Wende Anfang der 80er Jahre vorgenommen hatte: Die Entwicklung von der parlamentarischen Interessenvertretung der Gewerkschaften hin zu einer modernen, aufgeklärten Partei der sozialen Demokratie.

Das Resultat: Es gibt keine wirkliche Opposition. Regierung und die größte Oppositionspartei ziehen an einem Strick. Während die Regierung in einer Art „Marktradikalismus“ und mit viel Gottvertrauen auf dessen Selbstheilungskräfte den sozialen und wirtschaftlichen Umbruch in der DDR zu bewerkstelligen hofft, greift die SPD schlicht in die Mottenkiste sozialpolitischer Vorstellungen von Anno Tobak. Wo sind denn nun die konzeptuellen Versuche, die Bürgerseite zu betonen? Beschäftigungsgesellschaften, „sanftes Auffangen“ der zahlungsunfähigen Betriebe Ostdeutschlands — das erinnert nur allzu sehr an die Verstaatlichung von Verlustbetrieben.

Der Zusammenbruch der DDR- Wirtschaft ist — ökonomisch gesehen — seit jenem Zeitpunkt vorprogrammiert gewesen, da Hans-Dietrich Genscher im Frühwinter 1989/ 90 erklären konnte, die DDR-Bürger hätten sich für den schnellsten Weg zur Aufnahme in die EG, nämlich die Wiedervereinigung, entschieden. Gut ein Jahr später sieht es so aus, als sei der Vergleich zwischen der DDR und Sizilien tatsächlich eine Beleidigung, allerdings in anderer Richtung, als Graf Lambsdorff vermutet. Es ist eine Beleidigung für Sizilien.

Die Vorstellung, man könne oder solle die marode Industrie zwecks Garantie der Arbeitsplätze am Laufen halten, ist aberwitzig. Gäbe man das Geld, das für die Subventionierung etwa der Werftindustrie aufgewandt wird, um die Produktion ständig anwachsender, überflüssiger Tonnage zu fördern, den in dieser Industrie Arbeitenden direkt, sie könnten bis an ihr Lebensende mit einem Monatseinkommen in der Größenordnung von A13 ausgestattet werden. In der ehemaligen DDR werden wir das Problem der Arbeitslosigkeit und der — relativen — Armut genausowenig lösen, wie das Italien in seinem Mezzogiorno vermocht hat. Auswege für die Bevölkerung der fünf neuen Bundesländer bestehen zu einem großen Teil in einer Arbeitsimmigration in den Westen, so wie das viele Menschen aus Sizilien, Sardinien und Mittel- und Süditalien getan haben.

Das würde zwar das Wohnungsproblem im Westen verschärfen, aber gleichzeitig die Angleichung der Lebensstile beschleunigen. Außerdem wird man über Formen der Abkoppelung der sozialen Sicherungssysteme von der Arbeitsbiographie nachdenken müssen, also über ein Staatsbürger- oder Mindesteinkommen. Wenn die Einzelnen tatsächlich keine Chance haben, aus eigener Kraft ihre Existenz zu sichern, dann muß dies der Staat (i.e. die Gemeinschaft) tun. Auch die Gewerkschaftsforderung nach einer Maschinensteuer stellt eine solche Abkoppelung der Sozialversicherung von der Arbeit dar.

Was aber macht die Opposition? Dem Bündnis 90 mag man ja kaum verübeln, daß es sich im wesentlichen als Interessenvertretung der „Ossis“ versteht; die SPD aber, angesichts ihres Wahlergebnisses und ihrer Repräsentanz in den Regionalparlamenten und Kommunen eine eindeutige Westpartei, tut alles, um die Chance, die ihr ganz unverhofft zugefallen ist, zu verspielen. Anstatt zu dem „Marktradikalismus“ der Bundesregierung, den diese weniger aus Überzeugung denn aus Konzeptionslosigkeit praktiziert, eine glaubhafte, vom Bürger als Citoyen ausgehende politische Alternative zu entwerfen, nimmt sie die Rolle, die ihr die CDU anbietet, auch noch an: Sie spielt die Gewerkschaft für die „Ossis“. Natürlich gibt es eine Reihe von Gemeinschaftsaufgaben, in die zu investieren auf jeden Fall richtig ist, wie der Erhalt der Bausubstanz, Telefonleitungen, Schienenwege, Straßen. Es bleibt dennoch richtig: Solange Europa, also der allgemeine Wohlstand an der Oder endet, wird auch die schönste Autobahn nach Dresden schwerlich die Industrie anlocken. Auch die „Autosole“ hat nichts daran geändert, daß Europa am italienischen Stiefel endet.

Der politische Rückfall der SPD in die fünfziger Jahre zeigt eines: All die schönen Reden vom Kampf um die neuen Mittelschichten, von der Annahme der Herausforderung in den großstädtischen Zentren waren kaum mehr als Schönwettergefasel. Kaum ziehen Wolken auf, siegt der Kanalarbeiter.

So ist charakteristisch, daß die SPD kaum darauf reagiert, wenn eine der ersten Sparmaßnahmen, die die Bundesregierung beschlossen hat, eine jener wenigen nützlichen Institutionen für die Bürger betrifft: Um jährlich 20 Millionen zu sparen, sollen die Bundeszuwendungen an die Verbraucherzentralen gestrichen werden.

Dennoch wird die neuerliche „Vergewerkschaftung“ der SPD- Politik keinen Erfolg haben. Eine Produktionsteigerung, die die industrielle Reservearmee, wie sie jetzt in der DDR entsteht, absorbieren könnte, ist absolut undenkbar, selbst dann, wenn man sie — unter der Annahme, alle Frauen würden sich zu Hausfrauen machen lassen — durch zwei teilt.

Eine SPD, die um des kurzfristigen Erfolges willen eher den Sozialstaat kaputtgehen läßt, als ernsthaft über eine Alternative nachzudenken und wenigstens in Ansätzen ihre Realisierung einzufordern, verspielt jenen Vertrauensvorschuß, den sie bei der Bevölkerung im deutschen Westen noch genießt. In diesem Fall wäre sie tatsächlich und völlig zu Recht ein historisches Auslaufmodell — und wenn ihr neuer Bundesvorsitzender noch so sympathisch Pfeife raucht. Ulrich Hausmann