Arbeiterklasse gegen Gorbatschow

Die Arbeiter der Sowjetunion haben sich an die Speerspitze der demokratischen Bewegung gestellt/ Wirtschaftliche Verelendung hat Fußvolk und Angestellte in den Betrieben geeint/ „Keinen runden Tisch, der Gorbatschow nützt“  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ein republikweites Streikkomitee haben am Samstag belorussische Arbeiter in Minsk gegründet, das künftig im gesamten Belorußland Streikaktionen koordinieren soll. Zwei Tage zuvor hatten die Arbeiter ihren Ausstand für zehn Tage ausgesetzt, um Verhandlungen mit der belorussischen Regierung zu ermöglichen. Die gegenwärtigen Gespräche am „runden Tisch“ zwischen Vertretern des Streikkomitees und der Regierung beträfen eher „technische“ Fragen, teilte einer der Co-Vorsitzenden des Minsker Streikkomitees der taz mit. Davon blieben jedoch die Forderungen nach Rücktritt des Obersten Sowjets der BSSR und nach einer „Regierung des Volksvertrauens“ unberührt.

„Natürlich befinden wir uns alle auf dem Deck eines Dampfers, nur daß einige einen Platz unter einem Schirm haben und andere nicht“, meinte dazu der Werkbankeinrichter Georgij Muchin vom Unternehmen „Elektromasch“, einer der namhaftesten Spezialisten der Stadt. Damit distanzierte er sich deutlich von den Erklärungen, die der Sprecher des Präsidiums des belorussischen Obersten Sowjets am Vorabend in der Fernsehnachrichtensendung Wremja abgegeben hatte: „In einer ganzen Reihe von Fragen befinden wir uns hinter einer Barrikade.“

Die Vertreter der Arbeiterschaft in der UdSSR, über Jahrzehnte zum „Hegemon“ der Gesellschaft erklärt, lassen sich nicht mehr durch schöne Worte beschwichtigen. Die Spaltung dieser „Klasse“, wie sie sich selbst bezeichnen, in ein Fußvolk und in qualifizierte Angestellte „geschlossener“ Betriebe, die wegen ihres — oft allerdings nur sehr indirekten — Bezuges zur Rüstung mit einer geheimnisvollen Aura umgeben wurden, funktioniert nicht mehr. Die wirtschaftliche Verelendung im Lande hat sie geeint. „Diese Leute haben einen etwas höheren Intellekt, und gerade deswegen sind sie politisierter.“

„Wenn es die ,Schachtjory‘ (die Bergleute) nicht gäbe, wäre es schon längst um uns geschehen“, hört man oft in Moskauer Privatgesprächen. Denn anders als im Westen sehen die Mitglieder der neuen Parteien, der Wählervereinigungen und Volksfronten in Präsident Gorbatschow nicht den Garanten der Demokratie. Sie sind davon überzeugt, daß dieser das Blutvergießen, das er in Tbilissi und Vilnius zuließ und auch als Mittel zur Lösung sozialer Konflikte gelassener betrachten würde, spräche dagegen nicht der berühmte „starke Arm des Proletariats“.

Als auf einem der Moskauer März-Meetings ein Bergmann aus dem Kusbass-Gebiet versicherte, man werde noch bis zum Ende des Winters die Heizung der Häuser gewährleisten, rief neben mir eine ärmliche Frau wildentschlossen: „Nehmt bloß keine Rücksicht auf uns, hört lieber gleich ganz auf, die Sonne scheint ja schon!“ „Na so warm ist es ja auch noch nicht“, meinte ihre Nachbarin. Deutlich befürchtete sie, der allmächtige „Schachtjor“ auf der Tribüne könnte die Ermunterung gehört haben.

Viele der sibirischen und ukrainischen Bergleute leben heute noch dort, wo ihre Eltern in Straflagern gefangengehalten wurden. Daß sie von diesen eine kritische Einstellung zur KPdSU geerbt haben, ist kein Wunder. Hinzu kommt ein beträchtlicher Zuwachs des intellektuellen Potentials der Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten. Gerade für die gefährlichen, körperlich schweren Arbeiten wurden fast unbegrenzt Arbeitskräfte geworben, die man dafür auch ideologisch nicht allzusehr behelligte. Und so mancher, der die Griffelübungen im „Geiste der Partei“ in den wissenschaftlichen Instituten nicht mehr aushalten konnte, meldete sich freiwillig an diese „Front“.

Die von den „Schachtjory“ heute erhobene Forderung nach dem Rücktritt Gorbatschows entspringt nicht nur dieser Tradition. Vertragsverletzungen gegenüber den Gruben seitens der vom heutigen Präsidenten in den letzten Jahren gedeckten Regierungen und seiner eigenen Wortbrüche haben hierzu beigetragen. Keine einschneidenden wirtschaftlichen Maßnahmen ohne den Konsens des gesamten Volkes — dies hatte Gorbatschow noch im letzten Herbst versprochen.

Ob er an den „runden Tisch“ aller gesellschaftlichen Kräfte aufgenommen werden soll, der diesen Konsens endlich herstellen könnte, darüber scheiden sich die Geister in der Bewegung „Demokratisches Rußland“. Die Vertreter der drei größten Parteien, Sozialdemokraten, Demokratische Partei und Republikanische Partei, sind dafür, während die Mehrheit der anderen gesellschaftlichen Interessengruppen protestiert: „Keinen runden Tisch, der Gorbatschow nützt.“ Die Entscheidung soll am Sonntag auf einer Plenarversammlung der Bewegung fallen.

Inzwischen hat die konservative „Sojus-Deputiertengruppe im Obersten Sowjet der UdSSR“ den Präsidenten ihrer Unterstützung versichert, ihm aber wieder einmal „mangelnde Konsequenz“ vorgeworfen. Auf die Frage, welche Folgen ein Scheitern des präsidialen Krisenprogrammes nach sich ziehen könnte, antwortete am Dienstag dessen Berater Schachnasarow auf einer Pressekonferenz sibyllinisch: „Entweder er geht, oder er bleibt.“