Für den Osten ist in EG-Europa kein Platz frei

Die Europäische Gemeinschaft sperrt sich gegen die Wünsche ehemaliger Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts nach Mitgliedschaft und „Marshall-Hilfe“/ Furcht vor einer Isolierung der Sowjetunion/ Osten soll sich selbst aus dem Sumpf ziehen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Er komme nicht als Bettler, verkündete der legendäre Ex-Solidarnosc- Führer stolz, und machte sich damit vor den versammelten Eurokraten doch nur lächerlich. Schließlich gehören aus deren Sicht die Revolutionen in Osteuropa, die er und seine Kollegen anführten, längst der Geschichte an. Waren Lech Walesa und Vaclav Havel noch vor Jahresfrist im Europaparlament und in der EG- Zentrale als Helden des neuen Europas gefeiert worden, so fallen sie — inzwischen zu den Präsidenten ihrer Länder gewählt — in Brüssel eigentlich nur noch lästig.

In die EG wollen sie, und gar in die Nato. Osteuropa werde andernfalls in ein politisches, wirtschaftliches und militärisches Vakuum abrutschen, das für Westeuropa mindestens so gefährlich ist, wie vormals die Armeen des Warschauer Pakts, so die Begründung. Ähnliches befürchten auch die Eurokraten. Für noch bedrohlicher halten sie allerdings die Integration Osteuropas in die Gemeinschaft: Warum sie sich nicht fürs erste mit dem „Europaabkommen“ zufrieden geben, das die EG gerade mit Ungarn, Polen und der CSFR aushandelt, fragt deswegen der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors. Oder, so die freundliche Empfehlung eines Euroabegordneten, „wenden Sie sich doch an die skandinavischen Länder“. Und auch Nato-Generalsekretär Manfred Wörner winkt ab.

Warum? Weil ein Beitritt der Sowjetunion zur EG und Nato undenkbar, der Beitritt ihrer früheren Alliierten sie andererseits isolieren und damit die Hardliner im sowjetischen Militär stärken würde. Dies möchte man verhindern und stattdessen beide Supermächte „in Europa halten“. Soweit die offizielle Begründung. Inoffiziell wird jedoch zugegeben, daß das neue Denken die Nato-Hierarchie noch bei weitem nicht durchdrungen hat. Im Gegenteil: Die Schwierigkeiten der auseinanderfallenden Supermacht beleben die alten Feindbilder. Die Rolle der mittelosteuropäischen Länder als wirtschaftliche und militärische Puffer paßt dabei bestens ins Konzept.

Um die Ostler nicht gänzlich vor den Kopf zu stoßen, wird darüber nachgedacht, sie zumindest enger an die durch die EG neu belebte Westeuropäische Union zu binden. Die Grenze der möglichen Zusammenarbeit zieht jedoch auch WEU-Generalsekretär van Eekelen sehr eng: Informationsaustausch wie mit der Nato ist möglich. Ausgeschlossen bleiben allerdings Verteidigungsgarantien; man will vermeiden, automatisch einen Krieg gegen die Sowjetunion führen zu müssen, falls die Hardliner dort den Kurs gegenüber ihren früheren Satelliten ändern.

Zwar gibt es einsame Rufer, wie den belgischen Premierminister Martens, die für eine baldige Ausweitung der EG mit entsprechenden Konsequenzen für die Nato eintreten. Auch in der EG-Behörde werden hin und wieder solche Positionen laut. Im Grunde wird es jedoch auch beim heutigen Treffen lediglich darum gehen, eine gemeinsame Formel zu finden, wie die ungebetenen Verwandten am geschicktesten abgewimmelt werden können.

Auf welche Version sie sich dabei auch immer einigen werden, sie wird ihren Zweck verfehlen. Denn Walesa und seine Kollegen können und wollen nicht verstehen: „Für Polen gibt es nur eines, was wichtig ist, die Mitgliedschaft in der EG.“ Deshalb bietet er sein Land feil, wie eine reife Frucht. „Polen ist ein Land, in dem viel Geld zu verdienen ist.“ Die Verzweiflung, die ihn zu diesem Ausverkauf treibt, stößt die ParlamentarierInnen noch weiter ab.

EG-Mitgliedschaft gegen „drohende Anarchie“?

Nur eine EG-Mitgliedschaft, so argumentiert die Gegenseite, könne jedoch das kommende Fiasko, die „drohende Anarchie“ in Mittelosteuropa verhindern. Je länger man warte, desto größer werde der Unterschied zwischen den armen und den reichen Nachbarn und umso unmöglicher ein Zusammengehen. Dies wiederum ist ein Argument, das in Brüssel auf völlig taube Ohren stößt. Selbst die französische Euro-Grüne Solange Fernex predigt stattdessen den Grundsatz vom „Vertrauen in die eigene Kraft“. Auch ein von den Osteuropäern ins Spiel gebrachter „Marshallplan“ stößt in Brüssel und Straßburg auf taube Ohren.

Die Binnenmarktstrategen fürchten um den wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozeß der EG, falls die armen Nachbarn aus dem Osten dazustoßen sollten. Griechenland, Portugal und Spanien sehen in den Ostländern Konkurrenten. Sie wollen auf keinen Fall die Milliarden teilen, die im Rahmen der EG-Strukturfonds zur Entwicklung benachteiligter Gebiete vor allem in den Süden Europas fließen. Den Binnenmarkt- Kritikern wiederum stößt die EG- und Nato-Freundlichkeit der ehemaligen Revolutionäre auf. Ein Beitritt Polens oder der CSFR liefe in ihren Augen auf eine Stärkung der konservativen Kräfte in der EG hinaus.

Weil also eine neue, ostwestübergreifende Europapolitik nicht ihren Interessen entspricht, basteln die Kleingeister der Gemeinschaft weiter an EG-üblichem Stückwerk. Während Jugoslawien im Bürgerkrieg versinkt, die CSFR sich zu spalten droht, das sowjetische Reich auseinanderfliegt, üben sich die Eurokraten im Formulieren tiefschürfender gemeinsamer Erklärungen. Ein aktuelles Beispiel: „Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten unterstützen die Anstrengungen, durch einen Dialog die konstitutionelle Krise Jugoslawiens zu lösen. Sie appellieren an die beteiligten Länder, keine Gewalt anzuwenden und die Menschenrechte zu respektieren.“ Nach Meinung der zwölf„ hat ein geeintes und demokratisches Jugoslawien die besten Chancen, sich in das neue Europa zu integrieren“. Konkreter wurde der Luxemburger Ministerpräsident und amtierender EG- Ratsvorsitzender Jacques Santer letzte Woche: „Gott weiß, daß die Grenzfrage in Europa von äußerster politischer Empfindlichkeit ist“. Deswegen könne Jugoslawien auch nicht mit einem Assoziationsabkommen rechnen, solange seine Einheit oder territoriale Integrität in Frage gestellt werde.

Als Zuckerl für die Aufrechterhaltung der staatlichen Einheit versprach Santers immerhin, dafür zu sorgen, daß dem Krisenstaat ein Teil der knapp 300 Milliarden Mark Auslandsschulden erlassen wird. Denn eine Aufsplitterung Jugoslawiens soll auf jeden Fall verhindert werden, könnte sie doch als Vorbild dienen, nicht nur für die Ethnien in ganz Mittelosteuropa.

Kein Europa der Regionen

Auch in der EG sind Autonomiebestrebungen und Grenzänderungswünsche einzelner Regionen noch nicht endgültig ausgemerzt. Korsika, Katalonien oder Schottland sind dabei nur die bekanntesten. Andere könnten folgen und unter dem Schlachtruf „Europa den Regionen“ den Nationalstaaten das Fürchten lehren. Diese haben sich jedoch nicht umsonst mit Hilfe der EG von lästigen Kontrollen, sei es durch Parlamente oder Regionalregierungen, weitgehend befreit. Einmal auf dem Zenit ihrer Machtfülle angelangt, wollen sie dort auch verweilen. Deswegen hat der Werbeslogan der Gemeinschaft „Europa der Regionen“ vorerst keine Chance, zu einem konkreten Konzept für die Neuordnung Europas ausgebaut zu werden. Zuvor müßten erst einmal demokratische Verhältnisse in EG-Europa eingeführt werden.

Dies wird allerdings ebenso auf sich warten lassen wie ein ernsthafter Versuch, den neuen Demokratien Mittelosteuropas unter die Arme zu greifen. Stattdessen werden die Zwölf weiterhin darauf bedacht sein, ihre Machtposition auszubauen. Für Polen, Ungarn und die CSFR heißt dies, daß die EG zwar bereit ist, ihre landwirtschaftlichen Überschüsse zu verschenken oder westliches Management-Know-how zu vermitteln. Um die gebeutelten Länder an der Stange zu halten, werden sogar Teile der eh schon abgeschriebenen Auslandsschulden (im Falle Polens etwa die Hälfte der 33 Milliarden Dollar) gestrichen und ein auf Europa-Abkommen umgetaufter Assoziationsvertrag geschlossen.

Doch bei den zentralen Forderungen der drei Länder bleibt die EG hart. Stellvertretend für seine Kollegen beklagte sich deshalb Walesa, daß zwar Polen, Ungarn und die CSFR ihre Importzölle aufgehoben haben und westliche Waren die Märkte überfluten. Ihre Waren jedoch, die auch im Westen konkurrenzfähig wären, wie Stahlerzeugnisse, Textilien und landwirtschaftliche Produkte, würde die EG weiterhin aussperren. Antwort Delors: Walesa müsse doch einsehen, daß dies Bereiche seien, in denen die EG selbst Überschüsse produziere.