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Kurdischen Flüchtlingen droht Massensterben

■ "Man kann Menschen nicht helfen, die sich in unzugänglichen Gebieten aufhalten", begründete die türkische Regierung am Sonntag ihre Entscheidung, die kurdischen Flüchtlinge ein Stück weit ins...

Kurdischen Flüchtlingen droht Massensterben „Man kann Menschen nicht helfen, die sich in unzugänglichen Gebieten aufhalten“, begründete die türkische Regierung am Sonntag ihre Entscheidung, die kurdischen Flüchtlinge ein Stück weit ins Land zu lassen — zu spät für etwa 3.000 Kurden, die in den letzten vier Tagen auf der Flucht gestorben sind.

AUS ISIKVEREN ÖMER ERZEREN

Die Exkremente sind stets flüssig, in heller, gelber Farbe. Nach den Regenfällen mischen sie sich mit dem bräunlichen Schlamm. Hie und da eine Wasserlache, zuweilen die Reste von tierischen Eingeweiden. Es ist bitter kalt. Neben mir ein paar paar nackte Kinderfüße. Sie bleiben im Schlamm stecken. Die Erde klebt. Isikveren — Endpunkt der Flucht vor dem Massaker des Diktators Saddam Hussein an den irakischen Kurden. Isikveren — ein von verschneiten Bergspitzen eingekreistes Hochplateau an der türkisch-irakischen Grenze, rund zweitausend Meter über dem Meeresspiegel.

Seit fast zwei Wochen harren hier über hunderttausend Menschen aus — ein Kampf gegen den Tod durch Hunger oder Erfrieren. Die Decken reichen nicht aus. Mit Plastikplanen versuchen sich die Menschen vor dem Regen zu schützen, der nachts bei Temperaturen um den Gefrierpunkt einsetzt.

Unter einem Fetzen Plastikplane versuchen Hayyam und Mohammed, sich und ihre sechs Kinder vor den Naturgewalten zu schützen. „Wir werden alle sterben, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Ich schwöre bei Gott, daß ich Verwandte in der Türkei habe. Warum lassen sie uns nicht weiterziehen. Wenn die Türken uns nicht wollen, gehen wir auch in andere Länder. Wir sind bereit, uns auf die ganze Welt zu verteilen. Doch die Türkei hat uns den Weg versperrt. Es gibt kein Brot, es gibt kein wasser. Es ist eiskalt. Wir können unsere Hände und unser Gesicht nicht waschen. Wir sind alle im Dreck. Wir sind dieses Leben nicht gewöhnt, unsere Häuser waren sauber. Hier gibt es nichts. Wir sind zu Tieren geworden. Seht die entzündeten Münder meiner Kinder. Wir haben kein Brot. Wir haben Durchfall. Unsere Kinder haben kein Brot. Die Türken sollen die Grenzen öffnen.“ Hayyam weint, als sie über das Wasser spricht. „Wir wollen dorthin, wo es sauber ist. Es soll Wasser geben, wo wir hingehen. Auf diesem Berg, in dieser Hölle werden wir alle sterben.“ Wasser, die Quelle des Lebens, ist das wichtigste; hier findet es sich nur in den ekelerregenden Lachen und als Schnee in den Bergen, der nach stundenlangem Fußmarsch geholt wird. Der Bach, der eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt ist, könnte täglich Hunderten das Leben retten. Aber nicht nur das Wasser treibt die Menschen nach unten: In dem tiefer gelegenen Lager der Militärs sind die Hilfslieferungen, Zelte und Decken aufgestockt. Dort gibt es vielleicht die Chance, einen Arzt aufzusuchen. Doch dazwischen steht das türkische Militär, die Schlagstöcke, die Gewehre, die Bajonette der Soldaten.

Soldaten halten Kurden mit Knüppeln zurück

Einige hundert Flüchtlinge versuchen, ins Tal hinunter zu gehen. Soldaten feuern in die Luft und treiben die Menschen unter Einsatz ihrer Stöcke wieder den Berg hinauf. Eine alte Frau bricht entkräftet zusammen. Mitleid steht dem Soldaten, der mit dem Stock in der Hand die Frau hilflos anblickt, ins Gesicht geschrieben. „Treib' sie hoch“, faucht ein Offizier den Soldaten an.

Stunden später. Ein Mann zieht sich im Lager das Hemd aus, um mir seinen blau angelaufenen Körper zu zeigen. Habib Yusuf hat sich die Hänge hinunter getraut. „Ich wollte unten ein Zelt und Lebensmittel besorgen. Die Soldaten kamen und schlugen mit ihren Knüppeln auf uns ein.“

Habib Yusuf hatte Glück im Unglück: Ein 14jahriger Junge ist erschossen worden. An der Grenze haben Dutzende im Kugelhagel der türkischen Soldaten den Tod gefunden. Selbst Eyüp Asik, Abgeordneter der regierenden Mutterlandspartei und Vorsitzender der Menschenrechtskomission des türkischen Parlamentes, hat die Lage erfaßt. „Die Soldaten sind eben in Antiterrorismus ausgebildet. Dem 'Gegner‘ eine Bajonette ins Gesicht zu stoßen, gehört noch zu ihren sanftesten Umgangsformen.“

Neben dem Lager der Militärs unterhalb der Hänge des Hochplateaus, wo die Flüchtlinge zusammengepfercht leben, hat das türkische Gesundheitsministerium vier grüne Zelte aufgebaut. „Gesundheitsministerium der Türkischen Republik“. „Cafeteria des Krankenhauspersonals“ steht auf einem der Zelte. Das Zelt ist leer — ohnehin ein Hohn auf das Massensterben, oben in den Bergen. Die ersten, die sterben, sind die Säuglinge. Frühgeburten mit Todesfolge für die Kinder sind die Regel. Der türkische Arzt, der seit Tagen nicht geschlafen hat und versucht, die wenigen, die es geschafft haben, bis hierhin zu kommen, zu helfen, hat Angst. „Nennt bitte nicht meinen Namen. Meinen Kollegen Mehmet Tanriburdu haben sie verhaftet, weil er die Wahrheit gesagt hat. Weil er erklärt hat, wie das Massenmorden hier organisiert wird.“ Mit leiser Stimme teilt der Arzt sich mit. „Eine medizinische Behandlung ist nicht möglich. Wollten wir alle Kranken behandeln, müßte das ganze Lager ins Krankenhaus. Auf diesem unwegsamen Plateau können die Menschen nicht überleben. Nur wenn die Flüchtlinge am Rande einer Straße, wo die Hilfslieferungen ankommen können, an einem Ort, wo es Wasser gibt, untergebracht werden, kann es eine Lösung geben. Rund 200 Menschen sterben hier pro Tag. Alle Kinder und die Hälfte der Erwachsenen leiden an Durchfall. Alle Voraussetzungen für den Ausbruch von Epidemien sind erfüllt: Cholera, Typhus, Hepatitis. Wenn die Situation so bleibt, ist in zwei Wochen die Hälfte der Menschen tot.“

Alle paar Stunden schafft es ein Trecker mit Lebensmitteln oder einer Tankfüllung Wasser, die unwegsame Schotterstraße hinaufzufahren. Oben angekommen stürmen Hunderte den fahrenden Trecker. Die Flüchtlinge stoßen sich gegenseitig zu Boden, Menschen werden zertrampelt. Es ist keine Verteilung, sondern ein Plündern der wenigen Hilfsgüter, die überhaupt ankommen. Im Kampf ums Überleben werden die Menschen hier zu Tieren.

Die Heuchler, die einst Saddam Hussein die mörderischen Waffen lieferten und heute Krokodilstränen weinen, sehen diese Wandlung des Menschen nicht. Wenn die Politiker ankommen, zermalmen sich die Menschen nicht gegenseitig; schließlich haben die Politiker nichts zu essen und zu trinken in ihren Händen. Ob US-Außenminister Baker in dem Lager in Cukurca oder der türkische Ministerpräsident Akbulut im Lager Isikveren: unerreichbar, abgesichert von den Bodyguards ein Smalltalk am Rande der Lager über das Leiden der Menschen. Keine hellgelben Exkremente am Hosenaufschlag, keine kurdischen Klagelieder über die toten Säuglinge, die im Niemandsland in den Bergen begraben werden. Selbst Journalisten sind bessere Menschen als die Politiker. Ein Großteil unter den Hunderten von Journalisten trägt täglich etwas hoch: Plastiktüten voller Milch, Pullover aus dem eigenen Reisekoffer, Schuhe, die in irgendeinem Laden gekauft wurden.

Abschottung — Leitmotiv der türkischen Politik

In den offiziellen Stellungnahmen geben sich die türkischen Politiker empört über die Politik des Diktators in Bagdad. Der türkische Staatspräsident Turgut Özal sprach von einem „Massaker gegen die Kurden“. Doch das türkische Regime ist kein Freund der Kurden. Die Türkei hat seit Gründung der Republik 1923 immer wieder darauf hingearbeitet, die Kurden unter Zwang zu assimilieren. Kurdische Aufstände für ihre Autonomie wurden stets niedergeschlagen. Assimilierung der Kurden ist offizielle Staatspolitik. Kein Wunder, daß heute die Abschottung der türkischen Grenze gegenüber den Flüchtlingen aus dem Irak Leitmotiv der militärischen Aktivität in den Bergen ist.

Das Schicksal wollte es, daß Hunderttausende Kurden aus dem Irak nun an der Grenze jenes Gebiets der Türkei sind, das in den vergangenen Jahren vom türkischen Staat mit militärischer Gewalt zwangsevakuiert wurde. Allein in der Provinz Sirnak, an deren Grenzen nun Hunderttausende Flüchtlinge Einlaß begehren, wurden fast hundert Dörfer zwangsgeräumt.

Der türkische Außenminister Kurtcebe Alptemucin will sogar eine militärische Intervention gegen den Irak nicht ausschließen, um so den Flüchtlingsstrom zu stoppen: Falls sich die irakische Führung dem Beschluß der Vereinten Nationen nicht füge, sei eine militärische Lösung durchaus im Rahmen der Möglichkeiten. Dem türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal schwebt eine Lösung vor, wonach mindestens 30 Kilometer irakischen Territoriums als Sicherheitszone für die irakischen Kurden deklariert und unter Aufsicht der Vereinten Nationen gestellt werden.

Das Volk ohne Staat war schon immer ein Spielball in dem Hexenkessel nahöstlicher Politik. In Kriegszeiten sind die Kurden stets gerngesehene Bündnispartner. Unmittelbar danach läßt man sie fallen. Dem iranisch-irakischen Waffenstillstand folgte das Massaker an den irakischen Kurden. Dem Golfkrieg nun, in dem die Allierten die Kurden zum Aufstand gegen Saddam Hussein ermunterten, folgt die Apokalypse im Lager Isikveren. Die kurdischen Organisationen im Nordirak nahmen fälschlicherweise an, daß in Georges Bushs neuer Weltordnung auch das Selbstbestimmungsrecht der Kurden vorgesehen sei. Sie haben sich getäuscht und müssen dafür bitter bezahlen. In Washington sind die Weichen gestellt. Nachdem das Öl der kuwaitischen Scheichs und der Konzerne in Kuwait gesichert ist, läßt sich mit dem Massenmörder ein Modus vivendi durchaus finden. Der amerikanische Präsident George Bush spricht heute von „Nichteinmischungspolitik in die inneren Angelegenheiten des Irak“. Keinem US- Soldaten soll wegen „innerirakischer“ Konflikte ein Haar gekrümmt werden.

Tod durch humanitäre Hilfe

Ein ruhiges Gewissen verschafft schließlich die „Operation provide comfort“ — eine Luftbrücke, die noch größer, noch technisch perfekter, noch vollkommener sein soll als die Luftbrücke nach Westberlin. Die Zahl der amerikanischen Soldaten auf dem militärischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, die die sogenannte „humanitäre Hilfe“ organisieren, soll bis Mitte der Woche auf 8.000 Mann aufgestockt werden. „Wüstensturm ade“, es lebe „Operation provide comfort“. Von Incirlik, von wo aus während des Golfkrieges die Bomber starteten, um in den kurdischen Gebieten des Irak ihre Todesfracht abzuwerfen, starten heute, von den Medien begleitet, die Transporter, um ihre humanitäre Hilfe über den Krisengebieten abzuwerfen. 500 Tonnen sollen es bis zum Wochende gewesen sein. Man teile 500 Tonnen durch eine halbe Million Menschen: das macht ein Kilogramm pro Kopf. Doch sogar die Hilfe bringt für einige den Tod — so geschehen, als sich Fallschirme nicht öffneten und insgesamt acht Flüchtlinge unter der Last der herunterkommenden Hilfe starben.

Es war mir nicht möglich, bis an die gelandete Fracht, die über den Köpfen der Flüchtlinge im Lager Isikveren per Fallschirm abgeworfen wurde, heranzukommen; binnen weniger Minuten hatten die Menschenmassen, Ameisen gleich, alles weggetragen. Auch Kaugummi und Toilettenpapier sollen sich darunter nach Informationen der türkischen Tageszeitung 'Cumhuriyet‘ befunden haben. Ich traf nur einen alten Mann, der seit Tagen nichts gegessen hatte; er wollte von mir wissen, was er mit der Hilfe vom Himmel anstellen sollte — in seiner Hand ein Päckchen Kaffeeweißer und eine Mini- Flasche Tabasco.

Brecht hat einmal über die verschieden Wege des Mordens gesprochen, von denen der Staat nur wenige verbietet. Auf dem Plateau in Isikveren ist keine Form des Mordens verboten. In Isikveren kann man von türkischen Soldaten erschossen werden, man kann von der abstürzenden Hilfe erschlagen werden. Doch der am meisten verbreitete Mord in Isikveren ist unspektakulär: durch Erfrieren, im Schlamm dahinsiechen, langsam verrecken.

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