Russische Geschichte in Bremer Hand

■ Lew Kopelew übergibt Nachlaß an Institut für Osteuropaforschung

„Die Freundschaft mit dem Institut für Osteuropaforschung an der Bremer Universität, das war sozusagen Liebe auf den ersten Blick“, lacht der grauhaarige alte Herr. Gestern bei der offiziellen Übergabe seines gesamten Nachlasses an das Institut erinnerte sich der russische Schriftsteller und Germanist Lew Kopelew an die erste Begegnung im Dezember 1980. „Wir haben in Deutschland sehr oft freundliche Menschen getroffen, aber meistens hatten sie wenig Verständnis für unser Land und wenig Kentnisse. Hier war das anders. Die Leute entsprachen dem, was wir von Wissenschaftlern erwarteten, die wahre internationale Verbindungen haben und überparteiisch arbeiten.“ Deshalb wolle er, daß alles, was er in seinem Leben geschrieben habe, hier archiviert und für künftige Wissenschaftler und Literaten zugänglich gemacht werde.

Damit Kopelews Nachlaß sortiert werden kann, hat der Herausgeber der „Zeit“, Gerd Bucerius, 100.000 Mark zur Verfügung gestellt. „Besonders die unzähligen Briefe“, weiß der Gönner „ spiegeln die ganze Entwicklung und Veränderung in der Sowjetunion aus privater Sicht wider. So etwas gibt es kaum noch.“

Und wirklich, das, was das Institut für Osteuropaforschung übereignet bekam, ist ein literarischer Schatz. Allein die 2.000 Briefe in russischer Sprache sind schriftliche Zeitzeugen. Sie reichen bis in die 30er Jahre zurück, stammen aus der Zeit des Krieges, des Lagers, der Verfolgung und später des unfreiwilligen Exils in der Bundesrepublik. Viele können in Dialogform gelesen werden. Adressaten waren Eltern und Verwandte, aber auch Freunde wie Sacharow, Solschenizyn Okudschawa, später Christa Wolf, Heinrich Böll und Anna Seghers.

„Für jeden Historiker ist es das spannendste, was man sich vorstellen kann“, schwärmt die Regisseurin und Kamerafrau Maria Klassen, die jetzt mit der Archivierung beschäftigt ist. Besonders die Briefe aus der Kriegszeit haben sie beeindruckt. „Das waren damals junge Leute, die vom Frieden träumten und über Gott und die Welt diskutierten“, sagt sie. Auch die unzähligen Manuskripte und unveröffentlichten Artikel seien von Hand geschriebene Geschichtsbücher.

Über mangelnde Arbeit jedenfalls wird Maria Klassen nicht zu klagen haben. Denn Lew Kopelew, der sich selbst als „Berichterstatter“ versteht, hat die Angewohnheit „jedes Stück Papier aufzuheben“. Für viele seiner Bücher oder Artikel gibt es vier bis fünf, manchmal sogar neun verschiedene Fassungen. Weiterer Bestandteil des Nachlasses sind über 6.000 Fotos und Tagebücher. „Für jeden Wissenschaftler ist etwas dabei“, sagt Maria Klassen, „Egal ob sie Literaten, Germanisten, Historiker oder Chronisten sind.“ bz