»Großmachnow ist dagegen sehr klein«

■ Rundgang durch die flächenmäßig größte Gemeinde Europas: Kleinmachnow/ 5.000 der 5.700 Grundstücke »gehören« Westlern

Kleinmachnow. Ohne Mauer fließen Berlin und Kleinmachnow übergangslos ineinander. Wo ist das »Zentrum« von Kleinmachnow? Am OdF-Platz (Opfer des Faschismus)? Da gibt es eine Buchhandlung, ein Lokal, eine Kaufhalle, das ehemalige Kino »Kammerspiele« und ein Eiscafé, an dem sich die Jugend trifft, seit Potsdamer Skins den Jugendklub auf ihre Art abgewickelt haben. Kleinmachnow hat kein Zentrum; Kleinmachnow zieht sich lang hin, hat 15.000 Einwohner und ist rein territorial die größte Gemeinde Europas, sagt man. »Großmachnow ist dagegen sehr klein.«

»Als ich hierhergekommen war und zum ersten Mal einkaufen ging, habe ich mich gar nicht zurechtfinden können. Da bin ich immer im Kreise gelaufen, weil hier alles so gleich aussieht«, erzählt Editha Walter, die seit 1958 hier wohnt. Jetzt findet sie sich zwar zurecht, doch das Leben ist nicht mehr das alte. Die Leute sitzen ohne Arbeit in ihren Häusern, auf die längst »Fremde« Anspruch erhoben haben. Läden schließen, aber neue entstehen kaum. »Wenn hier 'ne Oma einen Rock braucht, das ist jämmerlich. Die muß dann entweder nach Teltow oder nach Potsdam mit dem Bus fahren.« Der Bus fährt selten. Und der »Massa-Markt« in Teltow ist bekanntlich »sehr unfreundlich«.

Vor dem Krieg war Kleinmachnow ein Villenvorort von Berlin. Später haben sich die reichen Mittelständler aus dem Staub gemacht. Über die Hälfte der Alteigentümer ging noch vor 1961 in den Westen. Ihre Einfamilienhäuser wurden vor allem mittellosen Übersiedlerfamilien überlassen. Nun kehren sie in Scharen zurück. 5.000 von 5.700 Grundstücken gehören den Vereinigungsgewinnlern aus der ehemaligen BRD. Die Horrorgeschichten, die man sich von den »reichen Säcken, die im BMW oder Mercedes hier vorfahren« erzählt, gleichen einander. Besorgten Rentnern empfahl Pfarrer Langhein, ruhig zu bleiben, die Tür zu schließen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Der erste Ansturm liegt inzwischen schon einige Zeit zurück. Kleinmachnow wartet.

Raus muß jetzt noch niemand, denn der Mieterschutz gelte noch bis 1992. Im Gemeindeamt bastelt man allerdings schon an Wohnungsbauplänen für jene, die irgendwann auf der Straße sitzen werden. Früher arbeiteten die meisten Kleinmachnower in drei Großbetrieben. Das »Geräte- und Reglerwerk Teltow« beschäftigte 7.000 ArbeiterInnen. Siemens pickte sich das Filetstück des Betriebes heraus und verspricht, 1.200 Arbeitsplätze »zu schaffen«. »Dabei übernimmt er die bloß«, schimpft Betriebsrätin Christel Kern. In ihrem Werk, der »Leistung Elektronik AG« (LESAG) bleiben 670 Mitarbeiter von ehemals 3.100. In der »Elektronik mbH« liegen die Verhältnisse ähnlich. Die Stimmung sei »ausgesprochen depressiv und hoffnungslos«. Viele ziehen sich zurück, meiden das Sozialamt — »ich geh' doch nicht aufs Amt und bettel' um ein Almosen« — und vertreiben sich die Zeit erst einmal in ihrem Garten. Das böse Erwachen kommt erst später, weiß Pfarrer Langhein. Jetzt zum Beispiel. »Manche Leute, die erst im letzten Herbst Haus und Garten in Ordnung gebracht haben, fangen schon wieder damit an. Diese Leute fallen jetzt in ein tiefes Loch« und finden wenig, was sie herauslocken könnte. Das Kino spielt nichts mehr, das Programm des ehemaligen »Klubs der Intelligenz« und heutigen Kunstvereins ist eher bescheiden. Und den Jugendklub »Affenhaus« konnte man nach dem letzten Jungnazi-Überfall nicht mehr aufmachen, da die Sicherheit der Tanzveranstaltungen nicht mehr zu gewährleisten war. Ein paar Konzerte finden im privaten Rahmen bei Familie Walter statt. Eine Allee schwingt sich hinauf zur »Hakeburg«, die von einer Hotelkette übernommen wurde. In den »Jahren der Stagnation« war der Jahrhundertwendebau für den Publikumsverkehr gesperrt. Bis 1933 war die Miniaturausgabe einer Ritterburg in adligem Besitz, wurde dann von den Nazis übernommen und kam nach 1945 in die Hand des Volkes. Dieses hatte allerdings zum Gästehaus der SED keinen Zugang. Inzwischen haben die Preise Westniveau, und so bleiben die Kleinmachnower wieder draußen. Statt dessen wohnen oder essen hier West-Ausflügler und vagabundierende Adelsfamilien, die den Pfarrer Langhein ab und an darum bitten, doch einen Familiengottesdienst für sie zu veranstalten, was er nicht tut.

Unter einem gelb-braun gestreiften Giebeldach in der Karl-Marx- Straße wohnt Christel Kern, Initiatorin des Arbeitslosenverbandes »Leben und Arbeiten im Industriegebiet Teltow e.V.«. Zusammen mit den Betriebsräten der bedrohten Werke der Region und der Kirche will sie verhindern, »daß sich die Menschen verkriechen und auf die soziale Abschußebene geraten. Bevor die Leute aus den Betrieben raus sind und keine Anbindung mehr haben, müssen wir was unternehmen, sonst kommen wir nicht mehr an die Leute ran.« Der Betrieb war früher nicht nur Arbeitsstätte; man fuhr gemeinsam in den Urlaub, ging ins Theater oder feierte schöne Brigadefeste. Der Arbeitslosenverband versucht nun, nicht nur beim Behördenpapierkrieg hilfreich zur Seite zu stehen, sondern will vor allem auch gegen die drohende Isolierung der Leute angehen.

Ein paar Straßen weiter findet sich der Rat des Ortes. Am schwarzen Brett liest man hier merkwürdige Empfehlungen an die »lieben Kleinmachnower«: »Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, warum viele Menschen Laub und Nadeln im Wald nicht, aber im Garten sehr stören? Im Wald empfinden wir es als natürlich, dem Garten dagegen sprechen wir die Natürlichkeit ab! Hier liegt ein fast Jahrtausend altes Denkschema zu Grunde, das davon ausgeht, die Natur beherrschen, sie nach unseren Vorstellungen gestalten zu müssen. Diese Art zu denken, hat uns aber an den Rand einer ökologischen Katastrophe geführt!!« Gegen die Katastrophe empfiehlt man »Das Mulchen!!«, »Kompostieren!!«, »Holzhaufen anlegen!!« Auch ruft man zur Aktion »Rettet die Frösche« auf. Lurche und andere Amphibien seien im Bestand gefährdet.

Im Grunde genommen ist hier jedoch »alles Scheiße«, findet jedenfalls ein unbekannter Kleinmachnower, der seine Wut in roter Schrift an einer verlassenen Kaufhallenwand den anderen Kleinmachnowern mitteilt. Detlef Kuhlbrodt/Anja Baum